Aaron – Kapitel 1
Die Wahrheit, die Gänze seiner Schuld, in Worte zu fassen, zerriss Aaron innerlich. Jede verfluchte Silbe, welche ihm über die Lippen kam, schlug regelrecht auf Veronika ein. Der Blick, mit dem sie ihn betrachtete, veränderte sich, als wenn der blaue Fluss, der darin innewohnte, zufrieren würde.
Eisig. Hart. Unerbittlich.
Die Leute behaupteten, dass die Wahrheit einen befreit, doch das konnte er nicht bestätigen. Die Last der Schuld schien ihm schwerer und unerträglicher als jemals zuvor. Er hätte Veronika ebenso gut zusammenschlagen können, damit hätte er sie nicht mehr verletzt, als mit seinem Geständnis.
Sie wird mir nicht vergeben.
Niemals.
Tränen flossen über Veronikas Wangen und sie taumelte. Instinktiv hätte er sie am liebsten in seine Arme gezogen und festgehalten. Allerdings war er sich bewusst, damit würde er das, was er ihr angetan hatte nicht wieder gut machen können.
Mabel deutete ihm in dem Wirrwarr aus alten Möbel und Plunder zu warten, während sie ihr nachlief. Ihnen hilflos hinterher zu sehen, war die reinste Folter. Eine Qual, die er mehr als verdient hatte. Immerhin war es die Kugel aus seiner Waffe, durch die sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Es war sein Clan, der ihre Eltern getötet hatte und sie damit zur Waise machte.
Er hasste sich für seine Taten noch nie so sehr, als in diesem Moment.
Ja, es ist nur gerecht.
Mabel kam wenige Minuten später allein zurück. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf, sein Puls beschleunigte. Fragend sah er die Suntes an.
„Veronika braucht Zeit für sich. Sie muss sich erst beruhigen“, erklärte sie ihm gelassen. „Komm mit, Junge.“
„Da draußen ist es nicht sicher für Veronika. Die Wächter…“
„Die Wächter“, fiel Mabel ihm ins Wort, „sind hinter dir und deinem Clan her – nicht hinter Veronika.“
So sicher war er sich da jedoch nicht. „Der Kerl, den ich kalt gemacht habe, wollte ihren Tod ebenso wie meinen“, zischte er ungehalten. Außerdem hatte er sich weder bei Brunorhan gemeldet, noch war er in die Fabrik zurückgekehrt, mit Sicherheit suchte sein Clan ebenfalls nach ihr. Darauf hätte er seinen Arsch verwettet.
Mabel sah ihn ernst an, für einen Augenblick legte sich ihre Stirn in Falten. Schließlich nickte sie. „Doch der Wächter wird keinem mehr etwas über sie erzählen können, oder über die Tatsache, dass ihr in meinem Transporter unterwegs wart. Oder irre ich mich?“
„Nein, der brennt im Feuer der Götter.“
Ein Schmunzeln huschte über Mabels Lippen. „Siehst du, im Moment besteht kaum eine Gefahr für sie.“
„Und was ist mit meinem Clan?“
Mabel schmunzelte. „Bis jetzt haben sie dieses Lager noch nicht gestürmt. Also haben wir noch etwas Zeit. Außerdem ist es wichtig, dass du alles über dich und Veronika erfährst.“
Aaron blinzelte sie an, er verstand nicht worauf sie hinaus wollte. Angestrengt versuchte er in ihrer Miene zu lesen.
Was gibt es noch mehr zu erfahren?
Sagt sie die Wahrheit?
Oder lügt sie?
Vielleicht war alles nur ein Trick, um ihn von seinem Clan zu trennen.
Ich ein Prinz.
Absurd.
In ihren grünen Augen lag eine Ruhe, die nur das Alter einem Suntes geben konnte.
Sie weiß etwas.
Sie ist die beste Chance Lions zu finden.
Der Ärger, der Aaron zuhause erwartete, wuchs mit jeder Stunde, die verging. Die Kette war das Einzige, mit dem er seinem Vater besänftigen könnte. Er warf erneut einen Blick in Richtung des Rolltores. Hoffte, Veronika würde gleich zurückkommen. Jedoch zu seinem Bedauern geschah dies nicht.
Was, wenn ich sie niemals wiedersehe?
Was, wenn ihr irgendetwas zu stieß, während ich mit der Alten rede?
Diese Gedanken schnürten ihm die Kehle zu, noch bevor er sie zu Ende gedacht hatte. „Wird sie zurückkommen?“ Die Frage jagte durch seinen Kopf und ehe er sich versah, platze sie aus ihm heraus.
Die Suntes lachte. „Aber natürlich, wo sollte Veronika sonst hin? Sie hat niemanden. Und nun stell dich nicht so an und komm mit.“ Sie hielt ihm erneut die Augenbinde hin.
Ein knurrender Laut entkam ihm. „Ist das Ihr ernst?“
„Ja. Ich traue dir noch immer nicht, Junge.“
Und ich dir nicht!
Aaron zögerte, alles in ihm sträubte sich, sich erneut der Willkür dieser Frau zu unterwerfen. Jedoch hatte er keine andere Wahl, wenn er herausfinden wollte, was die Suntes wusste und ob sie all ihre Behauptungen beweisen konnte.
Das Mal der Königsfamilie, schoss es ihm durch den Kopf.
Der entführte Prinz.
Gedankenverloren fasste er sich an seine rechte Brust. Vor seinen Augen sah er deutlich das Muttermal, welches geformt war wie Flügel. Er war der Einzige im Clan, der es hatte.
Zu deutlich erinnerte er sich an die Bestrafungen von Brunorhan, als er ein Kind war. Mehrmals schnitt er ihm in seinen Zorn den Leberfleck aus der Haut, jedoch innerhalb weniger Wochen, wuchs es wieder nach. Schließlich hatte Brunorhan es aufgegeben.
„Verfluchter Bastard“, donnerte die Stimme seines Vaters durch seine Ohren.
Stimmt es?
Ist mein Leben eine Lüge?
Tief atmete Aaron durch, nahm die Augenbinde und setzte diese auf. Dunkelheit umfasste ihn, sein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich.
Woher weiß sie, was in dieser Nacht vor neun Jahren geschah?
Dieser Gedanke schoss durch seinen Kopf wie ein Stromschlag, während Mabel ihn schweigend an die Hand nahm und ihn durch das Gewirr antiker Möbel zu der Brandschutztür führte – wie er vermutete. Schwer und knarrend öffnete sich diese und die Suntes zog ihn hindurch. Mit dem Knie stieß er gegen die Kante eines Tisches. Schmerz durchfuhr sein Bein und ein zischender Laut entkam seiner Kehle. Mabel achtete nicht darauf, sie zog ihn weiter, bis zu einer Treppe, die nach unten führte. Angestrengt lauschte Aaron in die Dunkelheit hinein, nahm die Gerüche der Umgebung stärker wahr. Mit jeder Stufe wurde es kälter um ihn herum und der modrige Geruch nahm zu.
Erneut knarrte Holz, welches aufgeschoben wurde und feuchte, abgestandene Luft drang ihm entgegen und verursachte ihm Übelkeit. Mabel führte ihn direkt hinein und als sich die Tür hinter ihnen schloss, erteilte sie ihm die Erlaubnis die Augenbinde abzunehmen. Aaron kämpfte gegen den Würgereiz, zog die Binde von den Augen und blinzelte. Es dauerte einen kurzen Moment, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten.
Er befand sich in einer Art Kellergewölbe. Die Wände aus blanken Ziegeln, waren links und rechts von ihm mit Bücherregalen gesäumt. In jeder Ecke stapelten sich mehrere braune Kartons. Es standen zwei Tische aneinandergestellt in der Mitte des Raumes. Auf einem stand ein Computer, der in dieser Umgebung absolut fehl am Platz wirkte. Der Boden war mit verschiedenen Teppicharten ausgelegt, die den blanken Estrich überdeckten.
Dieser Ort hier wurde in Eile errichtet.
Es ging um Funktionalität und auf Schönheit hatten sie keinen Wert gelegt.
Aarons Aufmerksamkeit wurde von einem großen, runden Wandteppich direkt vor ihm angezogen. Sein Blick blieb daran hängen, genau betrachtete er die Weltkarte, welche darauf abgebildet war. Jedoch handelte es sich nicht um die Erde.
Das muss Valura sein.
Er drehte sich zu Mabel um und sah sie fragend an. Es schien ihm, als könnte sie seine Gedanken lesen.
„Erkennst du deine Heimat?“ Neugier blitzte in ihren grünen Augen auf.
Aaron wandte sich erneut dem Teppich zu und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Es überraschte ihn selbst, wie kalt und ungerührt seine Stimme klang. Immerhin handelte es sich um die Welt, aus der er stammte. Diese Tatsache, sollte ihn in Aufregung versetzen – eigentlich. Doch das tat es nicht. „Was ist das alles hier? Noch mehr altes Gerümpel von Menschen?“ Er klang genervt.
„Woher auch“, seufzte sie und ging an ihm vorbei zu den Tischen. „Nein das hier gehörte keinem Menschen – wie du dir wohl denken kannst. Das meiste von den Sachen gehörte Torbjen, Veronikas Vater. Der Rest sind Erinnerungen an Valura aus Herrmanns Besitz.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte sie sich gegen den linken Tisch und lächelten ihn schmal an. Musternd ruhte ihr Blick auf ihm.
Aaron drehte sich einmal um die eigene Achse und musste sich eingestehen, dass ihn der Anblick all der Bücher und dem, was sie wohl beinhalteten, einschüchterte. Er schluckte hart. „Woher wussten sie, dass ich für Veronikas Gedächtnisverlust verantwortlich bin?“
„Junge, das wusste ich nicht. Herrmann hatte mir lediglich erzählt, dass dein Clan die Schuld für den Tod ihrer Familie trägt und dass du dabei warst. Allerdings, dass du ihr in den Kopf geschossen hast, erwähnte er mit keinem Wort.“ Sie schauderte und Trauer flog über ihr Gesicht. „Aber nun verstehe ich, warum sie überlebt hat. Aaron, du musst eines wissen, Veronikas Vater stand dem König sehr nahe. Sie waren mehr als Freunde, sie waren wie Brüder. So war auch Torbjen der Trauzeuge bei der königlichen Trauung und während der Zeremonie vor unseren Göttern, wurde ein unauflöslicher Bund zwischen den Häusern Aeronvalerian und Kreitz geschlossen. Der erstgeborene Sohn des Königspaares und die erstgeborene Tochter von Torbjen wurden darin einander versprochen und das Schicksal der beiden ungeborenen – noch nicht einmal gezeugten – Kinder untrennbar miteinander verwoben.“
Zischend stieß Aaron die Luft aus seinen Lungen aus. Er bemühte sich Mabels Worte zu verstehen, was ihm – wenn er ehrlich zu sich war – enorm schwerfiel.
Einander versprochene Kinder.
Verwobenes Schicksal.
Blödsinn.
Seine Schläfen begannen schmerzhaft zu pochen. „Was soll das bedeuten?“
„Das bedeutet, dass du und Veronika miteinander verbunden seid – auf ewig. Brunorhan hat durch deine Entführung versucht, dein Schicksal zu verändern. Doch dadurch verlief auch Torbjens Leben anders als es sollte. Veronika, sie …“ Was immer Mabel sagen wollte, sie brachte es nicht über die Lippen, ihre Augen glänzten plötzlich wässrig. Sachte schüttelte sie den Kopf und lächelte. „Du hast das Mädchen getötet und sie hat überlebt. Offenbar sind die Götter auf eurer Seite, obwohl du so unsagbar schreckliche Dinge getan hast.“
Ein stechender Schmerz zog durch sein Herz. „Dann ist das was wir fühlen nicht unser freier Wille und damit nicht echt“, fasste er bitter zusammen.
„Ein Versprechen, welches vor dem Angesicht der Götter gegeben wurde, kann nicht gebrochen werden. Es ist bindend, für beide Seiten. Das was ihr füreinander fühlen mögt, geht auf den eingegangenen Bund eurer leiblichen Väter zurück.“
„Dann haben wir keine Wahl.“
„Man hat immer eine Wahl, Junge. Bei allem was du fühlst und tust solltest du bedenken, ob es nicht angesichts der Gefahr in der Veronika durch dich schwebt, bei allem was du ihr bereits genommen hast, nicht für sie besser wäre, wenn du dich zurückziehst.“
Aaron schluckte hart. Mabels Worte schienen sich wie eine scharfe Klinge durch seine Eingeweide zu schneiden. Sein Herz rebellierte, weigerte sich ihr weiter zuzuhören, während sein Verstand ihr recht gab.
Sie kann sich auch irren.
Schwer atmete er aus. „Weib, vielleicht täuschst du dich und ich bin gar nicht der entführte Prinz.“
Mabel lächelte erschöpft und sah ihn mütterlich an. „Es wäre leichter für dich, das zu glauben, nicht wahr? Du hast König Williahms Augen, den gleichen unerbittlichen Ausdruck darin, seine aufbrausende, unbeherrschte Art. Doch der beste Beweis dafür, dass ich die Wahrheit sage, ist das Mal auf deiner Brust.“
Aarons Gedanken überschlugen sich.
Sie hat recht.
„Sie haben dich um dein Schicksal betrogen. Sie sprechen mit gespaltener Zunge, traue niemanden“, hallte die Stimme des sterbenden Wächters in seinen Ohren wider. Vor seinem inneren Auge tauchte der alte Mann auf.
Er war ihr Ehemann.
Der Keller schien sich um ihn herumzudrehen und er glaubte zu ersticken. Die Hände verkrampft stand er am ganzen Körper zitternd vor Mabel.
„Du solltest dich setzen, Junge.“
„Sage mir nicht was ich tun soll“, presste er angestrengt hervor. „Woher weiß ich, dass das die Wahrheit ist?“
Mabel lächelte und rollte mit den Augen. „Du bist stur, obwohl dein Herz es bereits weiß. Sonst hättest du mich bereits getötet und würdest dir nicht anhören was ich zu sagen habe. Aber gut“, sie wendete sich ab und holte eines der Bücher aus dem Regal rechts von ihnen. Staub wirbelte durch die Luft, als sie den Umschlag aufklappte und durch die einzelnen Pergamentseiten blätterte. Aaron musste husten.
„Ah hier“, Mabel drehte sich ihm wieder zu und reichte ihm eine Seite.
Er zögerte einen Moment. Betrachtete das Pergament. In seinem Magen rumorte es und das Blut rauschte in seinen Ohren. Vorsichtig nahm er es in die Hand. Alles wirkte befremdlich auf ihn. Auf dem Blatt war ein Bild, dessen Qualität einem Foto glich und doch keines war. Darauf war ein Paar mit einem Baby abgebildet.
„Das sind deine Eltern“, hörte er Mabel sagen. „Das Königspaar von Valura.“
Der König hielt das Baby in seinem Arm, seine tiefschwarzen Augen schienen zu leuchten und seine Körperhaltung strahlte eine beängstigende Erhabenheit aus. Die Königin lächelte, während ihre Hand auf dem Arm des Königs ruhte. Darunter stand ein Text.
Voller Stolz verkünden König Williahm und Königin Viktoria die Geburt des Kronprinzen Aaron Timotheus am 15. Tag des vierten Monats im Jahre. Mögen die Götter die Zukunft Valuras und das Leben des zukünftigen Herrschers beschützen.
Aaron blinzelte. Heiß lief es ihm über seine Haut, hinein in seine Knochen, bis in sein Herz, das nun aus der Brust zu springen drohte. Er glaubte den Boden unter seinen Füßen zu verlieren, während er unentwegt in die Augen des Königs starrte, die das Ebenbild seiner eigenen waren.