Valura Suntes Verlorene Erinnerung – (Folge 1) – Leseprobe

 

 

Veronika

Kapitel 1

Die eisige Luft hatte die Äste der Bäume und Sträucher mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Ihre Schritte knirschten leise im Schnee. Die Sonne ließ die Natur um sie herum funkeln wie Abermillionen der wertvollsten Edelsteine. Fest lag ihre Hand in der seinigen, sie spürte seine Wärme, die Kraft, die seinen Körper durchflutete. Tiefe Liebe lag in dem Blick seiner schwarzen Augen und sie wusste, niemals würde er zulassen, dass ihr ein Leid zugefügt wurde. Seine langen schwarzen Haare wehten im Wind, und die Stoppeln seines Drei-Tage-Bartes glänzten in der Sonne. Lächelnd zog er sie näher. „Liebe meines Lebens“, raunte er ihr mit einem dunklen Bass ins Ohr, der Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen und ihre Haut prickeln ließ. Mit seiner Hand hob er ihr Kinn an, sein Daumen strich sanft über ihre Lippen, bevor er diese mit den seinen verschloss. All seine Liebe lag in diesem Kuss und sie wünschte sich, der Kuss möge niemals enden.
Doch es war ein Gesetz der Natur, dass alles ein Ende hatte. Das wusste sie. Trotzdem schmerzte eine quälende Sehnsucht ihr Herz, als sie sich von ihrem Liebsten lösen musste.
„Der Kerl konnte dich also nicht befriedigen.“ Die Feststellung ihres Liebsten klang so kühl und trocken, dass sie hart schlucken musste. Seine schwarzen Augen ruhten auf ihr und sie wusste, lügen hatte keinen Sinn. Er kannte die Wahrheit bereits.
„Nein“, seufzte sie, „es war reine Zeitverschwendung. Wie alle anderen auch.“
Tröstend fuhr er mit seinem Handrücken ihre Wange entlang. „Ich werde immer für dich da sein.“ Seine schwarzen Augen glühten und erneut bestärkte er sein Versprechen mit einem alles verzehrenden Kuss, der ihr für einen Moment alle Sinne raubte.
„Ich weiß“, hauchte sie, nachdem er ihr die Möglichkeit zum Luftholen gegeben hatte, und schmiegte sich an seine breite Brust, niemals wieder wollte sie ihn loslassen. Sie wollte gar keinen anderen Mann in ihrem Leben. Sie war glücklich mit ihm und dankbar dafür.
Dennoch, tief in ihrem Herzen keimte eine dunkle Vorahnung, die sie zwang, immer wieder einen Blick über ihre Schulter zu werfen. Denn hinter ihnen lag nichts als Finsternis, die sich viel zu schnell ausbreitete und kurz davor war, sie beide zu verschlingen. Ihr Glück wich der Angst. Deutlich spürte sie den Sog, der sie in den Abgrund zog wie Treibsand. Gnadenlos. Dem Tod entgegen.

Nach Luft ringend schreckte Veronika Bergens aus ihrem Traum hoch. Durch das Fenster kam das schwache Licht der Dämmerung und man konnte erahnen, dass die ersten zarten Strahlen der Morgensonne bereits den Schatten der Nacht zu vertreiben begonnen hatten.
Ihr weißes Over-Size-Shirt klebte auf ihrer Haut und aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihre Jeanshose in einigen Metern Entfernung auf dem Boden lag. Das Herz raste in ihrer Brust und es schien, als wollte es sich gar nicht mehr beruhigen. Noch verwirrt vom Schlaf, unfähig, Traum von Realität zu unterscheiden, suchte sie mit hastigem Blick die Umgebung ab. Keine Bäume umringten sie. Kein Schnee lag auf dem Boden und kein kalter Wind fegte um ihre Nase. Kein Liebster, der ihre Hand hielt. Keine Finsternis, die sie bedrohte. Doch es war auch nicht ihr Schlafzimmer.
Wo bin ich?
Laute Musik, Stimmengewirr und Lachen drangen durch die Tür in das Zimmer. Dunkel erinnerte sie sich, dass sie sich von ein paar Bekannten hatte überreden lassen, auf eine Party zu gehen, die in einem der Verbindungshäuser auf dem Campus der Columbia Universität stattfand. Sie konnte nicht einmal mehr sagen, um welche Studentenverbindung es sich handelte.
Sie war mit ihnen gegangen, weil …
Ja, warum eigentlich?
Sie kannte die Leute nur flüchtig, hatte auch nichts mit ihnen gemein.
Warum bin ich jetzt hier?
Weil sie das tun wollte, was alle in ihrem Alter taten. Weil sie dazugehören wollte – irgendwie. Weil sie ihren Platz in diesem Leben suchte.
Tief atmete sie durch und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Krampfhaft versuchte sie die Erinnerung daran festzuhalten, doch diese begann bereits zu schwinden wie Nebel in der Sonne. Enttäuscht stieß sie den Atem aus und strampelte mühsam das nach Alkohol riechende Bettlaken von ihren Beinen. Wankend stand sie auf und hob ihre Jeans mitsamt Höschen auf.
Just in diesem Moment ging die Tür auf, ein blonder Typ, der mit Sicherheit zum Football-Team gehörte, kam mit nacktem, muskulösem Oberkörper und zwei Flaschen Bier in den Händen herein. Veronika konnte sich noch nicht einmal an seinen Namen erinnern.
„Hey, Schätzchen, wo willst du hin? Gleich kriegst du mehr von mir.“ Demonstrativ ließ er seine dunkle Stoffhose fallen und seine Männlichkeit sprang ihr entgegen.
Veronika verzog angewidert das Gesicht, richtete sich auf und fragte sich, was sie geritten hatte, mit diesem Kerl ins Bett zu steigen. Allerdings kannte sie die Antwort: Alle taten es.
Ich wollte dazugehören.
Scham stieg in ihr auf, daher beeilte sie sich, ihre Hose anzuziehen. „Danke, mein Bedarf ist gedeckt. Außerdem muss ich in einigen Stunden zur Arbeit.“
Er zog einen Schmollmund wie ein kleines Mädchen und trottete auf sie zu. „Ich würde das, was du in diesem Ramschladen machst, nicht als Arbeit bezeichnen, Baby. Bist du dir für gar nichts zu schade? Komm, lass uns ficken.“ Grinsend griff er beherzt an ihren Hintern, als wäre seine Hand eine Eisenkralle und sie ein Objekt, das jeder zu jederzeit betatschen konnte. Und ein Blick in seine Augen bestätigte diese Vermutung. Er wollte Befriedigung und sie war ihm völlig egal.
Noch bevor Veronika sich gewahr wurde, was sie tat, schlug sie ihm kräftig ins Gesicht, sodass er einige Schritte rückwärts taumelte.
Sein blödes Grinsen war ihm vergangen. „Verdammte Schlampe“, schrie er ihr hinterher, als sie aus dem Zimmer flüchtete.

Die Fahrt nach Hause kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie war allein in der U-Bahn, ließ sich tief in die Sitzbank sinken und schloss die Augen. Sofort war er da, ihr Liebster aus ihren Träumen. Auch wenn sie wusste, dass es vollkommen idiotisch war, sehnte sie sich nach diesem Fremden, der sie seit Jahren, zunächst als Junge und nun als Mann, jede Nacht im Traum besuchte.
Der Blick seiner schwarzen Augen ging ihr tief unter die Haut. Seine Stimme ließ ihren Körper vibrieren und ihr Herz in Flammen stehen.
Sie riss ihre Augen auf und sah sich im Fenster des Waggons gespiegelt. „Ja, du bist idiotisch“, schimpfte sie sich selbst.
Jeder Traum war anders, endete anders, doch der Mann, er war immer da. Er tröstete sie, wenn die reale Welt ihr kalt und ungerecht vorkam. Er freute sich mit ihr, wenn sie etwas geschafft hatte, an dessen Gelingen sie selbst nicht geglaubt hatte. Er hörte ihr zu, wenn sie ihm ihre Sorgen erzählte. Er liebte sie, wenn sie es selbst nicht konnte. Und es schien, als wüsste er, wer sie war, auch wenn sie selbst es vergessen hatte.
Ihre Gedanken drifteten ab, viele Jahre zurück. Als Kind hatten die Sozialarbeiter sie über einen längeren Zeitraum zu einem Psychologen geschickt. Diesem hatte sie einmal von dem Jungen, der sie im Traum besuchte, erzählt – ein Fehler. Nie würde sie den mitleidigen Ausdruck in den kalten grauen Augen des Therapeuten vergessen. Die Überheblichkeit in seiner Stimme, als er ihr erklärte, dass dieser Junge keinen Jungen als solches darstellte, sondern lediglich die Erinnerungen, die ihr Gedächtnis verloren hatte.
Doch Veronika wusste, vor allem fühlte sie es tief in ihrem Herzen, dass es nicht so war, und der Therapeut sich irrte. Diesen Mann gab es, wenngleich er womöglich tatsächlich nur in ihrem Kopf, in ihren Träumen, existierte.
Jeden Mann, den sie bislang in ihrem Leben getroffen hatte, verglich sie automatisch mit ihm. Kein Einzelner konnte gegen ihn bestehen. Kein Wunder also, dass sie keine Beziehung hatte. Doch lieber starb sie alt und einsam, als dass sie mit jemandem zusammenlebte, für den sie sich verbiegen und anpassen musste, der sie niemals richtig wahrnehmen würde.
„Wer bin ich?“

Aaron

Kapitel 2

„Entsorge den Wächter“, donnerte die Stimme seines Fürsten durch die ihn umgebende Dunkelheit, während er seinen Blick auf den grauhaarigen, alten Mann gerichtet hatte, dessen Körper gefoltert worden war, und der nun im Sterben lag. Der Alte hustete bereits Blut und röchelte schwer, seine Existenz würde sicherlich nur noch wenige Minuten dauern.
Dumpfe, schwere Schritte entfernten sich und eine Tür fiel krachend ins Schloss. Er war allein mit dem sterbenden Wächter, dessen blaugraue Augen ihn nun fixierten. Ihr Blick war durchdringend, als könnten sie bis in Aarons Seele sehen. Alle seine Wünsche, alle seine Geheimnisse und seine Schuld erfassen. Zitternd ergriff der Wächter seine Hand und versuchte sich mit letzter Kraft aufzusetzen.
„Junge, die Götter werden dir vergeben, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“ Hustend erbrach er einen weiteren Schwall dunkelbraunen Blutes, der sich über ihrer beider Hände ergoss. Der Alte kämpfte um jedes Wort. „Bis dahin traue niemandem. Sie alle sprechen mit gespaltener Zunge, glaube ihnen nie ein Wort. Sie haben dich um dein Schicksal, dein Erbe und um deine Liebe betrogen.“ Erleichtert atmete er auf und mit dem nächsten Atemzug entschwand das Leben aus dem geschundenen Körper.
Er hatte den Sinn der letzten Worte des Wächters nicht verstanden. Doch blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Ein Tornado riss ihn von dem Alten weg, zurück in seine Vergangenheit, zurück zu seiner Schuld.

Zitternd lag sie vor ihm. Ihr leises Schluchzen war kaum hörbar und doch da. Das Mädchen, nur wenige Jahre jünger als er selbst, starrte ihn mit weit aufgerissenen blauen Augen an und in ihnen sah er nichts anderes als Angst. Todesangst. Ihr Blick lähmte ihn und er glaubte, eine kalte, eiserne Faust legte sich um sein rasendes Herz.
Ich muss sie retten, schoss es ihm durch den Kopf. Das Bedürfnis dieses Mädchen zu beschützen, war so stark, dass es ihm die Luft abschnitt. Instinktiv wusste er, dass sie zu ihm gehörte, an seine Seite, ihrer beider Leben lang. Daher durfte er sie nicht töten, doch wusste er auch, dass ihm keine andere Wahl blieb.
„Na los, elender Feigling, drück ab, verdammt noch mal“, donnerte es hinter ihm, voller Verachtung und ohne Gnade. Mit der unausgesprochenen Drohung darin, dass er dafür büßen würde, wenn er es nicht täte.
Es ist falsch, schrie sein Herz.
Völlig falsch, stimmte sein Verstand zu.
Doch die Angst vor seinem Fürsten war viel zu groß, als dass er auf Herz und Verstand hätte hören können. Er hatte keine Wahl. Fest presste er seine Kiefer zusammen, so stark, dass die Gelenke schmerzhaft knackten, und sammelte all seine Kraft, um seinen Blick von dem Mädchen loszureißen. Verzweifelt drängte er die Tränen, die in seinen Augen brannten, zurück. Seine Hände zitterten ebenso sehr wie die Kleine vor ihm. Dunkelheit umfing ihn und er fröstelte. Die Pistole in seiner Hand wurde mit jeder Sekunde schwerer. Tonnenschwer, sodass er glaubte, sie im nächsten Augenblick nicht mehr halten zu können.
Doch ein boshaftes, spottendes Lachen trieb ihn an. Er war kein Feigling und nicht schwach, das würde er ihnen allen beweisen. Daher konzentrierte er sich auf sein Ziel, wie er es gelernt hatte, dann drückte er ab. Sein Herz stoppte. Der Knall dröhnte wie ein Donnerschlag in seinen Ohren und alles, woran er denken konnte, war, dass sie nicht sterben durfte.
Bitte ihr Götter, lasst sie nicht sterben. Bitte. Nicht sterben.
Er sah, wie die Kugel in ihren Schädel eindrang und Blut aus dem kleinen Loch strömte. Einmal blinzelte er, da war die Angst aus ihren Augen verschwunden und ihr Blick leer. Ihr Wimmern verstummte, ihr Körper wurde still. Kein Zittern. Kein Atem. Kein Herzschlag. Sie war tot.

Nach Luft ringend riss Aaron Clee die Augenlider auf und seine Augen starrten in die Finsternis. Als wäre er am Ertrinken, sog er gierig die Luft ein, die seine Lungen brennen ließ. In seinen Ohren hallten noch immer das leise Schluchzen des Mädchens und der Knall seiner Pistole nach.
Vertraue niemandem, jagten die Worte des Wächters durch seine Gedanken.
Mit einem Ruck setzte er sich auf und stützte sich mit zitternden Armen in seinem Bett ab. Sein Herz überschlug sich. Schweiß floss in Strömen, eisig wie Schnee, über seinen Körper und brannte leicht in seinen Augen. Seine schwarzen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht, klebten an seiner Haut und reichten hinab bis knapp über seine Schultern. Mit beiden Händen strich er die Strähnen zurück. „Nur ein Traum. Ein Albtraum. Nichts weiter“, flüsterte er vor sich hin.
In dieser ersten Dezembernacht drang kaum ein Licht durch das kleine, längliche Fenster, dass sich im oberen Bereich der gegenüberliegenden Wand befand. Selbst als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er nur die Schemen der Kommode und des Tisches mitsamt Stuhl im Zimmer erkennen. Fast blind griff er nach seinem Handy, welches neben ihm auf dem Nachttisch lag. Als er das kleine Display aufklappte, wurde er von dem grellen Licht geblendet. Tonlos stieß er einen Fluch aus. Es war erst kurz nach halb drei Uhr nachts. „Scheiße.“
Seufzend ließ er sich zurück ins Kissen fallen. Das Herz tobte noch immer in seiner Brust, rang mit seiner Schuld. Wohl wissend, dass er nicht mehr einschlafen konnte, wälzte er sich einige Zeit herum, drehte sich von links nach rechts und wieder zurück. In seinem Kopf hetzten sich die Erinnerungen mit den Bildern aus seinen Albträumen, verschmolzen zu einer einzigen schaurigen Vergangenheit.
Mit seinen erst zweiundzwanzig Jahren hatte er bereits zu viele sterben gesehen. Männer und Frauen, Menschen und Suntes. Zu vielen hatte er in der letzten Dekade selbst das Leben genommen. Doch an diesem Mädchen war seine Seele, falls er je eine gehabt hatte, zerbrochen.
Neun Jahre waren nun auf dem Tag genau vergangen. Neun Jahre, in denen sie ihn jede Nacht im Traum verfolgte. Neun Jahre, in der er sie jede Nacht tötete. Neun Jahre, die er nicht mehr durchschlief. Neun Jahre, in denen seine Schuld ihn quälte und schwächte.
Wut und Hass auf sich selbst ließen seine Hände sich zu Fäusten ballen. „Ich bin nicht schwach“, grollte er leise. Getrieben, dies der Welt auch zu beweisen, stand er schließlich auf, suchte sich in der Finsternis frische Klamotten, die er hastig anzog. Er musste raus aus seinem Zimmer, raus aus der quälenden Dunkelheit, die seinen Albträumen das Leben gab.
Es gab nur einen Ort, wo er Ruhe finden würde. Wie jede Nacht machte er sich auf den Weg in den Trainingsraum, um seinen Körper zu stählen und neue Kampftechniken einzuüben, bis er sie ohne nachzudenken ausführen konnte. Nein, er war nicht schwach. Er war schneller und stärker als die anderen. Er war ein Krieger der Götter und all die Toten seine Opfergaben für deren Wohlwollen, auf dass die Rebellion Erfolg haben werde.