Die Kanzlei – LiebesBlut – Leseprobe

Prolog

26. September

Der Himmel hatte sich verdunkelt. Tiefschwarze, meterhohe Rauchsäulen erhoben sich über New York City. Der Gestank von Verwesung und Abwasser hing in der Luft und paarte sich mit der außergewöhnlichen spätsommerlichen Hitze, die auf dem Asphalt zu kleben schien. Die noch vor wenigen Stunden pulsierende, nie schlafende Stadt wirkte nun wie der Eingang zur Hölle.
Immer wieder erschütterten Explosionen das Zentrum. Strom- und Wasserversorgung waren zusammengebrochen. Überall heulten Sirenen, Feuerwehrleute kämpften gegen die Flammen, der Rettungsdienst, versuchte Verletzte zu bergen.
Der Tag versank im Chaos.
Zacharias Baylon stand in den Trümmern von Monrach Inc. Das imposante Gebäude mit der Glasfassade war größtenteils eingestürzt und gab das Geheimnis des riesigen Gebäudekomplexes preis. Für alle Welt sichtbar ragten die Mauern des verborgenen Teils des Bauwerks, welcher die Vampire beherbergte, in den Himmel empor. Doch selbst diese Wände, die nie der Sonne oder einer Naturgewalt ausgesetzt waren, trugen tiefe Risse in sich, was die ganze Konstruktion instabil machte. Die Zugänge zu den unterirdischen Etagen waren durch Geröll versperrt.
Was bei den Göttern war nur passiert?
Fassungslos fuhr sich Zacharias über das Gesicht. Weder die Menschen noch die Vampire wussten, was diese Katastrophe ausgelöst hatte. War es ein terroristischer Akt oder ein Unglück? Es gab im Moment keine Antwort auf diese Frage.
„Nein! Lassen Sie mich“, kreischte eine Frau. Sie wurde gerade mit weiteren Bewohnern vom Sicherheitspersonal von Monrach Inc., grob aus dem Gebäude – beziehungsweise was davon übrig war – geführt.
„Schnauze!“, blaffte einer der grobschlächtigen Kerle und bugsierte die Frau gnadenlos weiter, die sogleich wimmernd ihren Kopf einzog. „Das Gebäude wird evakuiert.“
Monrach Inc. existiert nicht mehr.
Diese Tatsache riss Zacharias schier den Boden unter den Füßen fort.
Wo ist eigentlich meine Frau?
Er hatte Gilla seit gestern früh nicht mehr gesehen.
„Sie haben das Gebäude zu verlassen“, schnauzte ihn jemand von der Seite an.
Der Arzt wandte sich um und starrte in die dunklen, fast schwarzen Augen eines Mannes, dessen Name er nicht kannte. Seine Statur glich dem der anderen Sicherheitskräfte eins zu eins. Die Gesichtszüge hatten etwas Wölfisches, wie bei den Vampirlykanern und doch waren sie keine. Zacharias spürte die Gefahr, die von ihm ausging. Dennoch schüttelte er den Kopf. „Ich bin Dr. Baylon und werde erst gehen, wenn die Krankenstation geräumt wurde.“
Der Typ begann dämonisch zu grinsen und legte eine Reihe scharfer Zähne frei. Sein Mundgeruch, bitter und gleichzeitig nach verfaulendem Fleisch, traf Zacharias unvorbereitet. „Das erledigt sich in den nächsten zehn Minuten.“
Die Art, wie er die Worte aussprach, ließ Zacharias frösteln. „Was soll das bedeuten?“, fragte er misstrauisch nach.
Der Blick des Kerls verfinsterte sich. Erneutes Kreischen ließ die Aufmerksamkeit der beiden Männer zurück zu der Gruppe wandern. Die Frau wehrte sich mit allem, was ihr zur Verfügung stand, gegen die Evakuierung. Knurrend setzte sich der Typ neben Zacharias in Bewegung, die Strecke von fünfzig Metern hatte er innerhalb von Sekunden zurückgelegt. Im nächsten Augenblick holte er aus und schlug der Frau ins Gesicht, dass sie zu Boden ging. Halb bewusstlos zerrte er sie wieder auf die Beine und schleifte sie hinaus zu einem dunklen Lieferwagen. Der Rest der Gruppe folgte, doch Angst stand groß in den Gesichtern.
Mit seiner Selbstbeherrschung kämpfend presste Zacharias für einen Moment die Kiefer fest zusammen, so stark, dass seine Zähne knirschten. Er musste akzeptieren, dass er in diesem Augenblick nichts für die Vampire tun konnte. Widerstrebend setzte er sich in Bewegung. Er lief zurück, hinauf zur Krankenstation, zurück zu seinen Patienten.

Als er dort ankam stand die Tür weit offen. Sicherheitskräfte wüteten in den Räumen und vernichteten, was die Explosion nicht geschafft hatte.
„Was bei den Göttern tun Sie da?“, fuhr er mit bebender Stimme einen der Sicherheitsleute an, der am nächsten zum Eingang stand.
Dessen Kopf fuhr hoch, er stockte in der Bewegung und sah Zacharias direkt, mit verengten Augen und wildem Blick an. „Befehle ausführen.“
„Sie sollen die Patienten in Sicherheit bringen und nicht die Einrichtung zerstören“, antwortete der Arzt zornig. Doch sogleich erstarrte er.
Mehrere Männer brachten seine Patienten nicht nach unten sondern in den Operationssaal.
„Was …“ benommen ging er ihnen hinterher. Glassplitter knirschten unter seinen Schuhen und durch die zerbrochenen Fenster der Tür sah er, wie diese Männer, die das Gebäude und all seine Bewohner vor allem Übel beschützen sollten, sich auf die Patienten stürzten. Wie Raubtiere verbissen sie sich in ihre Opfer. Die Luft wurde von einer metallischen Note geschwängert und der Boden des Operationssaals glich einem See aus Blut.
Er hatte schon viel gesehen, doch die Brutalität dieser Männer drehte Zacharias den Magen um. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er Panik in sich aufsteigen. Erebos hätte dieses Massaker an den Vampiren niemals geduldet. Was immer die Explosion ausgelöst hatte, hatte dafür gesorgt, dass die Welt neu geordnet wurde. Die Regeln und Gesetze der Monrachs hatten keinen Bestand mehr.
Grob wurde er an den Armen gepackt. Er sah in pechschwarze Augen und eine dämonisch grinsende Fratze. „Der Alpha will dich sehen.“
Widerstandslos ließ sich der Vampir abführen.

Die Fahrt in dem schwarzen Geländewagen dauerte nicht lange. Zacharias Baylon ließ seinen Blick wandern. Die Stadt, sein Zuhause, hatte sich in ein Kriegsgebiet verwandelt. Die Straßen waren von Leichen übersät, ganze Straßenblöcke waren eingestürzt, Trümmer und Staub verteilten sich weit über das Stadtgebiet. Die Menschen versuchten zu retten, was von der Stadt und den Überlebenden noch zu retten war.
Schließlich endete die Fahrt auf dem Gelände von Bray Import & Export. Zacharias Hände begannen zu zittern. Die aufsteigende, irrationale Angst vor dem Unbekannten flutete ihn.
War es die Angst vor dem Tod, dass er plötzlich an seinen Sohn Dominik denken musste? Dieser war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Offiziell hieß es, Oskar Monrach hätte ihn getötet, allerdings eine Leiche wurde nie gefunden. Im Gegensatz zu seiner Schwiegertochter Katharina hatte er diese Erklärung nie hinterfragt. Was wohl daran lag, dass Dominik bei Erebos in Ungnade gefallen war. Die daraus entstandenen Konsequenzen trug nie die Person allein, sondern die gesamte Familie. Daher hatte auch Zacharias, als sein Vater in Stellung und Ansehen eingebüßt. Erebos vertraute dem Arzt nicht mehr und hatte ihm Dr. James vor die Nase gesetzt. Schlimmer noch, Zacharias war der Zugang zu dem Heilsanatorium verweigert worden und plötzlich musste er einem bösartigen Quacksalber Rede und Antwort stehen. Ja, er war wütend auf seinen Sohn, sehr sogar. Daher akzeptierte er dessen Tod, trauerte, nahm Abschied an der Gedenkfeier und das Leben ging weiter.
Die Berichte über Oskars Verhaftung und seiner Einlieferung ins Heilsanatorium verschafften ihm Genugtuung. Dieser Bastard war nun auf Gedeih und Verderb Dr. James ausgeliefert und Zacharias wusste, dass dessen Methoden jemanden von psychischen Störungen zu heilen fragwürdig waren.
Oskar hat bekommen, was er verdient.
In der Zeit danach begannen allerdings Gerüchte innerhalb der Vampirgesellschaft zu kursieren. Abstruse Gerüchte. Angesehene Mitglieder der Gesellschaft verschwanden und niemand, nicht einmal die Angehörigen redeten darüber.
Gleichzeitig war Nithard Monrach in den Schoß der Familie zurückgekehrt und mit ihm trat Sam Bray in Erscheinung. Wie selbstverständlich war der Geschäftsmann in den letzten Wochen in diesem Gebäude und in Erebos‘ Residenz ein- und ausgegangen. Niemand stellte Fragen. Doch mit dessen Auftauchen begann auch eine spürbare Veränderung. Erebos‘ Macht bröckelte. Spätestens nachdem die Wachen durch diese grobschlächtigen Männer, Berge an Muskelmasse und Stärke, ersetzt worden waren, war es für jeden in der Vampirgesellschaft ersichtlich, zumindest für die, die wachsam waren. Niemand wusste, wer diese neuen Männer waren und woher sie kamen. Doch alles hing mit Sam Bray zusammen.
Was, wenn es Oskar gelungen ist, zu entkommen und die Macht zu übernehmen?
Zacharias schüttelte seinen Kopf. Dies war ein absurder Gedanke. Seufzend fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht. Erschöpfung machte sich in ihm breit.
Wo ist Fanny?
Auch sie war seit ihrer Fehlgeburt verschwunden.
„Aussteigen“, blaffte der Fahrer den Arzt an.
Zacharias zuckte zusammen und stieg aus. Schweigend wurde er in das Gebäude geführt, welches nicht von der Explosion in Mitleidenschaft gezogen worden war. Sogar der Strom funktionierte.
Wie bei den Göttern ist das möglich?
Er wurde in ein Büro geführt. Die schweren, dunklen Damastvorhänge waren zugezogen, daher hatte sich düsteres Licht über den Raum gelegt. Schwer hing der Geruch nach Desinfektionsmittel in der Luft. Aus dem Schatten heraus trat Sam Bray. Zacharias Begleiter senkten respektvoll die Köpfe und zogen sich zurück.
Der Geschäftsmann trug Verbände an beiden Armen und sein Gesicht war von Narben gezeichnet. Das rechte Auge war mit einer Klappe bedeckt und jede Bewegung schien ihm gehörige Schmerzen zu bereiten. Ein Knurren kam tief aus seiner Brust. „Dr. Zacharias Baylon“, seine Stimme klang rau und heiser.
Dies ließ den Arzt vermuten, dass sein Gegenüber viel Rauch eingeatmet haben musste. Zacharias räusperte sich und versuchte gegen die Anspannung, die Angst, anzukämpfen. „Mr. Bray.“
Langsam bewegte sich Bray auf ihn zu. „Sie fragen sich sicher, was passiert ist? Was, beziehungsweise wer die Explosion ausgelöst hat?“
Nervös begann sich Zacharias die Hände zu reiben und nickte. „Wie jeder Bewohner dieser Stadt.“
Etwas, das einem Lachen glich, entwich Brays Kehle. „Vorsicht“, warnte er drohend.
Hart schluckte Zacharias gegen den Kloß in seinem Hals an. In Brays Augen tobte ein Sturm aus Hass, der die Welt aus ihren Fugen reißen konnte. Ein Grinsen verzerrte dessen verletztes Gesicht zu einer satanischen Fratze. Gleichzeitig stöhnte er unter Schmerzen auf. „Die Machtverhältnisse haben sich geändert. Ein neues Zeitalter ist angebrochen“, sprach Bray weiter. „Die Monrachs sind tot, ihre Blutlinie von diesem Planeten verschwunden.“
Zacharias stockte der Atem, während sein Verstand versuchte, die Information zu verarbeiten. Erebos‘ hatte Jahrhunderte die Vampirgesellschaft unterdrückt und dank Oskar eine Schreckensherrschaft geführt. „Sie behaupten, wir sind nun frei?“
Bray lachte erneut. „Ihr armseligen Blutsauger könnt mit Freiheit doch gar nichts anfangen. Ihr braucht jemanden, der euch führt, der euch befiehlt.“
„Und ihr seid dieser jemand?“ Die Frage platzte aus Zacharias heraus, noch bevor er über die möglichen Konsequenzen nachgedacht hatte.
„Cameron James sagte bereits, dass ihr ein Querulant seid, der alles hinterfragt.“ Bray legte eine bedeutungsschwere Pause ein. „Wie dem auch sei, die Gesellschaft vertraut euch und ich brauche jemanden, der die Vampire in der jetzigen Situation beruhigt.“
„Eure Männer haben gerade fünfundzwanzig verletzte und kranke Vampire getötet. Vampire die unter meiner Obhut standen.“
„Ich dachte mir bereits, dass Ihr nicht so einfach zu überzeugen seid.“ Er drückte auf einen Knopf und eine Seitentür öffnete sich. Gilla Baylon wurde von zwei seiner Leute hereingeführt. Sie blutete und wirkte halb bewusstlos. „Euren Sohn habt Ihr ja schon verloren. Wie viel, liegt Euch an eurer Ehefrau?“
Zacharias erstarrte und wusste, dieser Mann, war gefährlicher als die Monrachs. Er stand schon einmal vor der Entscheidung, sich einem Monster anzuschließen oder den Tod zu wählen. Er hatte die Königin verraten, damit er und seine Familie überleben konnten. Doch die Situation war nun eine andere.
Die Welt stand am Abgrund und vermutlich gab es keine Hoffnung mehr auf Rettung. Der Tod war unausweichlich. Sein Blick hing an seiner Frau.
Gilla.
Nach Dominiks Tod hatte sie mehr gelitten als je zuvor, doch anstatt ihr beizustehen, hatte er sich in seine Arbeit geflüchtet. Er hatte sie im Stich gelassen. Gilla liebte das Leben und deshalb liebte er sie. Sie hatte Besseres verdient als den Tod. Schweißperlen bildeten sich auf Zacharias Stirn und sein Körper schlotterte.
„Ich sehe wir verstehen uns, Baylon“, lachte Bray. „Knie nieder und schwör mir die Treue, oder sieh zu wie deine Frau stirbt wie die Monrachs.“

Kapitel 1

Ende Oktober

~ Fanny ~

… Dunkelheit hielt mich gefangen und ein eisiger Wind fuhr mir durch die Haare, welcher mich frösteln ließ. In der Ferne hörte ich einen markerschütternden Schrei.
Er war hier!
Er musste hier irgendwo sein!
Panisch drehte ich mich einmal im Kreis und versuchte etwas zu erkennen. Doch die Dunkelheit hatte die Welt verschluckt und ich befand mich im Nichts.
„Oskar“, rief ich, in der Hoffnung, dass er mich hören konnte. Er musste wissen, dass ich nach ihm suchte und ihn nicht aufgegeben hatte. Meine Stimme überschlug sich und hatte einen schrillen Klang.
Als Antwort hallte erneut ein schmerzerfüllter Schrei aus der Ferne zu mir. Ich lief los, mit jedem Schritt, jedem Atemzug bauten sich schemenhafte Geröllberge vor mir auf, wuchsen höher und höher in die Finsternis. Der Geruch nach Tod verstärkte sich. Vereinzelt lugten unter den Steinen eine leblose Hand mit langen Klauen oder ein Fuß, der eher zu einem Wolf als zu einem Menschen passte, hervor.
Meine Lunge brannte. „Oskar“, rief ich verzweifelt und hielt den Atem an, lauschte angestrengt in die Dunkelheit.
Da!
Der Schrei kam von rechts vorne. Ich hielt mich in diese Richtung und hoffte der Quelle endlich näher zu kommen. Doch mit jedem Schritt schien sich der Schrei weiter von mir zu entfernen.
So schnell mich meine Beine tragen konnten, rannte ich immer weiter, immer tiefer in die Dunkelheit. Lose Steine rutschten unter meinen Füßen weg und brachten mich aus dem Gleichgewicht. Ich geriet ins Stolpern, konnte mich aber gerade so fangen, dass ich nicht zu Boden fiel.
Plötzlich wurde es still, der alles durchdringende Laut war verstummt. Das Blut rauschte in meinen Ohren. „Oskar“, brüllte ich aus Leibeskräften und wartete, horchte ins Nichts hinein. Mein Herz schien sich zusammenzukrampfen. „Bitte, verlass mich nicht.“ Erste Tränen bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht.
„Fanny“, kam es plötzlich von der anderen Seite. Die Stimme war mir bekannt, allerdings gehörte sie nicht Oskar. Sie klang zu hoch und nicht nach einem erwachsenen Mann. „Fanny.“
Getrieben setzte ich mich wieder in Bewegung, ich musste weiter. Ich musste Oskar finden. Immer schneller entfernte ich mich von der Stimme die nach mir rief. „Oskar“, schrie ich erneut, laut und gedehnt, bis ich keine Luft mehr in der Lunge hatte.
Da!
Aus dem Nichts heraus sah ich ihn, klar und ganz deutlich. Dennoch blinzelte ich, um sicherzugehen, dass es kein Trugbild war. Oskar war unter großen Steinen eingequetscht, sein Arm und seine Beine sahen merkwürdig verdreht aus.
„Oskar.“ Meine Stimme war nur noch ein Wispern in der Finsternis. Die Zeit schien still zu stehen.
Träge wandte er seinen Kopf und sah mich an. Erleichtert atmete ich aus und wollte weiter. Allerdings wurde es schlagartig hell hinter mir. Nein! Viel zu schnell hatte das Licht die Dunkelheit verdrängt und Oskar war verschwunden. …

„Fanny, jetzt komm. Wach auf“, quengelte der Junge und rüttelte grob an meiner Schulter. „Dad, Hobbs und die anderen warten bereits.“
Stöhnend öffnete ich die Lider und sah direkt in das Gesicht von Felix Grünling. Er war Dominik Baylons jüngster Sohn. Seine großen Augen musterten mich mit kindlicher Neugier und Ungeduld.
Mein Nacken schmerzte, das schwarze Shirtkleid, welches ich trug, klebte am Körper. Heute war es wieder besonders schwül in Rio de Janeiro. Müde blickte ich mich um. Eine einsame Fliege tanzte träge durch die Luft. Ich lag auf dem alten Sofa, auf dem Tischchen vor mir stand ein Glas Wasser. Dunkel erinnerte ich mich, dass ich mich vorhin hingelegt hatte, weil die Übelkeit unerträglich geworden war.
Ungelenk setzte ich mich auf, mein Magen, begann sofort zu rebellieren. „Felix, ich komm gleich“, antwortete ich matt und rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht.
„Okay“, erwiderte der Junge zufrieden und wandte sich zum Gehen. Doch an der Tür hielt er inne und drehte sich wieder zu mir um. „Du hast im Schlaf den Namen Oskar gemurmelt.“ Sein Blick ruhte fragend auf mir. „Du meintest Oskar Monrach, richtig?“
Beklommenheit schnürte mir die Kehle zu, ich nickte knapp als Antwort.
Das Gesicht des Jungen verfinsterte sich. „Er war ein böser Mann und hätte Andy fast umgebracht. Es ist besser für uns, dass er weg ist“, grollte er und verschwand durch die Tür.
Felix Worte schienen in der Luft zu hängen. Tief atmete ich durch und merkte, dass ich zitterte.
Ja, er war böse, hat grauenhafte Dinge getan.
Ich schloss die Augen.
Bray hatte versucht das Böse in Oskar zu kontrollieren, ihn zu seinem Monster, seinem Sklaven zu machen. Teilweise hatte er auch Erfolg. Doch ein Teil in ihm, der, welcher mich liebte, hatte versucht, das Richtige zu tun.
Oskar.
Mein Herz schien erneut in tausend Stücke zerrissen zu werden. Die Leere in mir, welche sein Tod hinterließ, war so unerträglich. Doch noch unerträglicher war es, seinen Tod, die Tatsache, dass er nicht mehr da war, zu akzeptieren.
Seit Tagen hatte ich denselben Traum: Oskar schwer verletzt, begraben unter einem Berg aus Steinen. Er brauchte meine Hilfe, doch kurz bevor ich ihn erreichen konnte, wachte ich auf. Jedes verfluchte Mal! „Ich vermisse dich“, flüsterte ich und einige Tränen liefen mir über die Wangen.
Wie immer wenn mich die Trauer überrollte, begann es in meinem Bauch zu flattern. Das Baby erinnerte mich, dass ich einen Grund hatte weiterzumachen, zu leben. Sanft streichelte ich über meinen Bauch. „Ich weiß“, flüsterte ich in dessen Richtung. „Doch es ist so verdammt schwer.“ Einige Minuten vergingen, bis ich genug Kraft hatte mich zu erheben. Seufzend setzte ich mich in Bewegung und folgte Felix nach draußen.

Hobbs hatte die Idee, dass wir alle zusammen an diesem Samstagnachmittag grillen sollten. Ein hilfloser Versuch die angespannte Stimmung in unserer Gruppe zu lösen. Wir sollten uns wohl alle als eine Familie sehen oder so.
Katharina Baylon, Hobbs große Liebe, hatte bereits den langen Tisch vor unseren Hütten gedeckt. Ihr Ex, Dominik Baylon stand an einem Grill und wendete das Fleisch, während Felix und sein älterer Bruder Andreas ihrem Vater Gesellschaft leisteten. In der nächsten Sekunde kam Manuela, Dominiks Geliebte und Mutter seiner Söhne, mit zwei großen Schüsseln Salat um die Ecke. Man konnte zusehen, wie sich Katharinas Blick von einer Sekunde auf die andere verfinsterte.
Seit wir vor einer Woche hier angekommen waren, war die Spannung zwischen den beiden Frauen in der Luft greifbar. Katharina hatte sich zwar in Hobbs verliebt und in ihm auch einen neuen Partner und Weggefährten gefunden, doch der alte Groll schien nur schwer überwunden werden zu können. Auch Dominik beschränkte den Umgang mit Katharina auf das allernötigste.
Der Geruch des gegrillten Fleisches schwängerte die Luft und drehte mir den Magen um. Magensaft kroch meine Kehle empor. Jeglicher Geruch oder Anblick von Essen verursachte mir seit zwei Tagen Übelkeit.
Du darfst dir nichts anmerken lassen!
Bislang hatte ich niemandem von der Schwangerschaft erzählt. Weshalb auch, es würde sie alle beunruhigen. Höchst wahrscheinlich sogar unnötig, da die Wahrscheinlichkeit, dass ich das Baby austragen konnte, sehr gering war.
Bald werde ich sein Baby verlieren und damit das letzte Stückchen, was mir von ihm geblieben ist.
Meine Hände begannen zu zittern und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich hoffte, dass dem nicht so war. Allerdings, sollte ich wider Erwarten das Kind austragen können, dann standen meine Chancen schlecht, dass ich die Geburt überlebte. Egal welches Szenario ich spann, meine Zukunft und die des Kindes, standen unter keinem guten Stern.
Meine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Schnell schob ich diese Gedanken, die Angst vor der Zukunft, beiseite und zwang mich zu lächeln. Schweigend setzte ich mich zu Katharina, die ihre Kiefer fest aufeinander gepresst hatte.
„Fanny, geht es dir wieder besser?“, fragte Manuela, welche nun an der anderen Seite des Tisches Platz genommen hatte. Ihr Blick musterte mich intensiv.
„Was meinst du?“, erwiderte ich ihre Frage mit einer Gegenfrage und bemühte mich um einen arglosen Tonfall. Dabei hoffte ich, dass niemand meine Angst und die Wahrheit erkannte.
„Du siehst seit Tagen blass aus“, konkretisierte sie. Wie auf Kommando richteten alle ihre Augen auf mich und musterten jede meiner Regungen. „Hast du heute schon etwas gegessen?“
„Oh, blass“, wiederholte ich und bemühte mich eine gelassene Körperhaltung einzunehmen. „Und ja, ich hab heute schon gegessen“, log ich und ignorierte dabei die Tatsache, dass ich eine schlechte Lügnerin war.
Katharina zog für einen flüchtigen Moment ihre Stirn in Falten, während sie versuchte mein Gesicht zu lesen. Ihre Miene ließ nicht erkennen, ob sie meinen Worten glauben schenkte. Ich wagte gar nicht, Hobbs ins Gesicht zu sehen, der sich gerade uns gegenüber niederließ. Auch Manuelas Blick blieb skeptisch, doch sie beließ es bei meiner Antwort. Stille legte sich über uns und wir begannen unsere Teller zu füllen.
„Es wird leichter werden und alles kommt wieder ins Lot“, versicherte mir Manuela nach einer Weile.
Ich erstarrte für einen Moment und sah in das Gesicht der Vampirin, während meine Gedanken sich überschlugen.
Als würde irgendetwas auf dieser Welt, Oskars Tod erträglicher machen und die Leere in mir füllen können.
Als würde irgendetwas auf dieser Welt, mich oder mein Baby retten können.
Wenn Bray von meiner Schwangerschaft erfuhr …
Ich wagte nicht diesen Gedanken zu Ende zu denken. Gleichzeitig stieg kochende Wut in mir auf. Wut, wegen meiner Hilflosigkeit. Wut, weil ich in diesem Albtraum gefangen war. Wut, weil das unschuldige Leben unter meinem Herzen, keine Chance auf eine friedliche Zukunft hatte.
„Wie soll bitte wieder alles ins Lot kommen?“, fauchte ich sie über den Tisch hinweg an. „Wir sind auf der Flucht und nirgends auf dieser Welt vor Bray und seinen Leuten sicher“, platzte es bissig aus mir heraus.
Die Vampire wechselten für einen Moment besorgte Blicke. Anschließend lächelte Manuela mich voller Mitgefühl an. „Ich meinte die Trauer über deinen Verlust“, erklärte sie ruhig. „Die Zeit heilt alle Wunden.“
Ich sah sie an und konnte in ihrem Blick erkennen, dass sie wie Felix dachte.
Oskar war ein Monster und die Welt ist besser dran ohne ihn.
Katharina schien meine Gedanken zu lesen, ihre Augen weiteten sich und sie schluckte hart. Sie sah mich beschwörend an und schüttelte den Kopf, was mir sagen sollte, ich sollte es auf sich beruhen lassen.
Ich biss mir auf die Unterlippe, meine Hände zitterten. Verzweifelt versuchte ich die Kontrolle zu behalten. Vergeblich. „Über Verluste brauche ich bestimmt keine Belehrungen“, begann ich mit bebender Stimme. „Und daher weiß ich, vermutlich besser als jeder andere Mensch, dass der Schmerz nie vergehen, sondern ein Teil von mir wird.“ Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Oskar, Dan, Patrick. Wir haben sie alle verloren. Wobei Oskar für euch nur ein Monster war und jetzt wandelt eben eins weniger auf dieser Welt.“ Meine Stimme brach, ich musste mich sammeln.
„Fanny, so ist das nicht. Wir sind auch betrübt, dass Oskar …“, versuchte Katharina die Situation zu deeskalieren, doch ein Blick von mir genügte und sie ließ den Satz unbeendet.
„Katharina, bitte, lass es gut sein“, zischte ich flehend. Ich wollte ihre geheuchelte Trauer, die schön klingenden Worte, welche mich beruhigen sollten, nicht hören. „Gar nichts wird wieder ins Lot kommen, weil Tote nicht zu den Lebenden zurückkommen und die Welt nun von Bray beherrscht wird. Es werden einfach nur noch mehr Leute sterben.“
Ein Luftzug streifte mich und Hobbs stand plötzlich hinter mir. Schwer spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. „Fanny, du hast recht. Die Welt ist am Arsch.“ Sanft drehte er mich um, damit ich ihn ansehen konnte. „Es ist in Ordnung darüber wütend zu sein und zu trauern. Doch du darfst dich nicht in der Trauer und der Wut verlieren. Oskar hätte nicht gewollt …“
„Was weißt du schon, was Oskar gewollt hätte“, fiel ich ihm ins Wort.
„Er hat mich beauftragt, dass ich mich um dich kümmere“, antwortete er streng und rüttelte mich, damit ich ihm genau zuhörte. „Und das werde ich auch tun! Fanny, verstehst du das? Oskar wollte, dass du in Sicherheit bist, dass du lebst.“
Keuchend sog ich die Luft in meine Lungen und taxierte den Vampir mit starrem Blick, während darin die Tränen brannten.
Wie sicher er ist, dass er weiß, was Oskar will, so als wären sie beste Freunde gewesen.
Doch die Wahrheit war, dass genaue Gegenteil war der Fall. Sie wollten sich gegenseitig töten – mehr als einmal.
Hobbs nickte. Er dachte, ich fügte mich seinem Willen, als ich nichts mehr erwiderte. „Gut. Nun lasst uns essen.“ Er drückte mich zurück auf die Bank.
Die Jungs stellten das Fleisch auf den Tisch und setzten sich ebenfalls. Eine Weile sagte niemand etwas. Blind vor Tränen stocherte ich in dem Salat auf meinem Teller herum.
Schließlich durchbrach Hobbs das Schweigen und sah Dominik an. „Gibt es Neuigkeiten aus New York?“
Dieser schluckte hart. „Du meinst von meinem Vater?“ Ohne auf Hobbs Reaktion zu warten, sprach er weiter. „Nein und es ist mir auch egal. Soll der doch nun als Brays Handlanger glücklich werden.“
Katharina räusperte sich, so wie es Leute tun, die ein schlechtes Gewissen hatten. „Ich hab gehört“, begann sie und vermied es Hobbs anzusehen, „dass er alle Hände voll zu tun hat. Durch die Explosion gab es viele Verletzte. Auch Julitta muss es sehr schlimm erwischt haben. Monrach Inc. wurde geräumt und die Lage in der Stadt hat sich seither noch verschlechtert. Alles versinkt im Chaos.“
„Woher weißt du das?“, fragte Hobbs scharf nach.
Die Vampirin sah ihn entschuldigend an. „Ich habe eine Freundin angerufen. Ich wollte wissen, ob es ihr gut geht.“
„Bist du verrückt?“, fauchte Hobbs sie an.
Sie biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. „Ich habe ein Prepaid Handy genutzt und dieses nach dem Anruf sofort vernichtet. Wie wir es besprochen haben.“
„Trotzdem, was ist, wenn Brays Leute dich geortet haben?“, fuhr Hobbs sie an, seine Stimme hatte einen strengen, todernsten Klang angenommen. „Oder, deine Freundin? Was, wenn sie versuchen von ihr zu erfahren, wo wir sind. Hast du daran schon gedacht?“
Katharina wurde schlagartig aschfahl.
„Wenn wir versuchen, jemanden in New York zu kontaktieren, bringen wir denjenigen in Todesgefahr.“ Er sah jeden eindringlich an, mich gefühlt länger als die anderen. „Bray ist gnadenlos und fackelt nicht lange. Das muss uns allen bewusst sein. Wir dürfen keinen Fehler machen.“

~ Oskar ~

… Die Hitze drückte mich gen Boden und fraß sich gnadenlos durch mein Fleisch. Der Schmerz lähmte mich. Immer wieder donnerte es um mich herum. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Alpha hoch durch die Luft geschleudert wurde und in dem Chaos verschwand. …

Wie viel Zeit war vergangen? Eine Woche oder mehr? Ein Monat? Ich konnte es nicht sagen. Zeit war für mich nicht mehr greifbar. Wirr schossen Gedanken und Erinnerungen durch meinen Kopf. Ich erinnerte mich an die Hitze der Explosion, die Flammen, welche sich wie Lava über meinen Körper ergossen. Der Alpha war bei mir, er wollte mich für meinen Verrat bestrafen. Meine Hände begannen zu zittern. Blut, das verseuchte Blut meines Vaters hatte sich in meine Hand geätzt. Die Hand, mit der ich sein Leben beendete.
Nach Luft ringend riss ich die Augen auf und nahm zum ersten Mal bewusst wahr, dass ich mich nicht bewegen konnte. Auf mir lagen tonnenschwere Trümmer. Der Schmerz überrollte mich schlagartig und unerwartet. Ich versuchte, etwas zu erkennen, doch hier gab es nur Dunkelheit und Tod.
Ich hörte die Schreie der Anderen, welche ebenfalls verschüttet worden waren, ihre immer langsamer werdenden Herzschläge, die immer schwächer werdenden Atemzüge.
Fanny.
Wo ist sie?
Warum höre, warum spüre ich sie nicht?
Panik ließ mein Herz rasen und erst, als die Erinnerung an das Geschehen vor der Explosion deutlicher wurde, beruhigte es sich wieder. Ich erinnerte mich, dass ich Hobbs mit Fanny und Katharina Baylon weggeschickt hatte.

… „Hobbs, du hörst mir jetzt genau zu“, zischte ich ihm ins Ohr, während meine Hände sich in seinen Kragen bohrten. „Du wirst Katharina und Fanny hier rausschaffen. Ihr nehmt das Treppenhaus im östlichen Trakt und schleicht euch durch das Tor. In der zweiten Seitengasse, rechts hinter dem Müllcontainer, parkt ein schwarzer SUV. Unter dem Beifahrersitz ist ein Rucksack, darin ist alles, was Fanny braucht. Ihr seht nicht zurück, ihr bleibt nicht stehen und du behältst Fanny unter Kontrolle.“
Er kämpfte gegen den Griff an. „Ja. Verstanden.“, keuchte er schließlich. …

Undeutlich erinnerte ich mich daran, wie er mit Fanny und Katharina den Raum verlassen hatte.
Sie haben es sicher rechtzeitig raus geschafft.
Ganz sicher.
Hobbs würde sich um sie kümmern, sie beschützen. Ich hatte es ihm befohlen. Er war sicher dem Plan gefolgt und hat mit den beiden Frauen die Stadt verlassen, bestenfalls sogar die Landesgrenze passiert.
Südamerika.
Das war der Plan.
Sie ist in Sicherheit.
Meine Verletzungen sowie die große Entfernung waren der Grund, weshalb ich sie nicht mehr spüren konnte.
Das allein ist der Grund.
Sie ist nicht tot.
Wie ein Mantra wiederholte ich stumm die Worte: „Fanny ist nicht tot. Sie ist in Sicherheit.“ Es konnte, es durfte gar nicht anders sein.
„Ich wünschte, wir könnten zurück in unser Zimmer. Nur wir beide, von der Welt vergessen in der ewigen Dunkelheit.“ Die Erinnerung an Fannys Stimme hallte durch meinen Verstand. Hell und klar, als wäre sie neben mir. Aus meinen Augen lief etwas Flüssigkeit mein Gesicht hinab. „Ja, dass wünsche ich mir auch“, kam es lautlos von meinen Lippen.

Eine Weile schenkte mir die Stille Frieden. Als ich wieder bei Bewusstsein war, kehrte der Schmerz und die alles verzehrende Sehnsucht nach Fanny zurück. Deja-Vu. An diesem Punkt war ich vor nicht allzulanger Zeit bereits. Damals bevor der Alpha mich weiterentwickeln ließ. Bevor Sam Bray mich zu seinem Sklaven machte. Es war kaum noch etwas von Oskar Monrach übrig und der Teil, welchen Fanny retten konnte, hatte sich gegen den Alpha aufgelehnt. Dieser Teil glaubte, dass er sie, uns alle, retten konnte. Ein fataler Fehler. Ich hatte mich geirrt.
Der Alpha hat gewonnen.
Mein Vater Erebos war tot und ich würde hier begraben auf dem Stützpunkt meiner Armee, mit der ich Erebos vernichten wollte, ebenfalls bald den Tod finden.
Ich glaubte das triumphierende Lachen, diesen markerschütternden, donnernden Laut des Alphas in meinen Ohren zu hören. Doch sein Ruf, welchen ich noch immer als eine Art Hintergrundrauschen wahrnahm, sagte mir, dass Sam Bray nicht lachte. Im Gegenteil, er war zornig und er wollte Fanny und mich, die gesamte Welt brennen sehen. Seine Rache würde erbarmungslos werden, sollte er uns je zu fassen bekommen.
Ich konnte seine Leute über mir hören. Sie suchten das Gelände, die Reste des Gebäudes nach mir ab. Von Zeit zu Zeit hörte ich die schweren Schritte, den Beton, welcher bröckelte oder das Knacken eines Risses, der sich langsam durch einen Stein und das übrig gebliebene Mauerwerk fraß.
Nichts, absolut nichts, konnte ich dagegen tun. Ich lag da, ausgeliefert, wehrlos und wartete, darauf, dass meine Existenz endete.
Fanny ist in Sicherheit.
Weit weg.
In Sicherheit!
Hart stieß ich den Atem aus, meine Lunge schien sich zu verkrampfen. Der Schmerz presste gegen meine Rippen, bis ich irgendwann wieder in die Stille abdriften durfte.

… Fannys Gesicht war gerötet, Tränen rannten über ihre Wangen. „Nein, er hat überlebt. Er muss. Niemand kennt den Stützpunkt so gut wie er. Oskar hat das Gelände umbauen lassen. Er konnte bestimmt entkommen.“
Kopfschüttelnd zog Dominik Baylon Fanny in seine Arme. „Du hast gesehen wie der Stützpunkt explodiert ist und die Flammen alles verschlungen haben. Nicht einmal Oskar Monrach ist so mächtig, diese Gewalt zu überleben. Wir müssen akzeptieren, dass Dan Franko, Wolfram, Erebos und er …“ Seine Stimme brach und er machte eine Pause, rang sichtlich um Fassung. „Sie kommen nicht mehr zurück und wandeln jetzt bei den Göttern.“ …

Donnernde Geräusche holten mich aus der Stille weg von Fanny. Die Trümmer über mir wurden von einem schweren Beben erschüttert und quetschten meinen Körper erneut zusammen.
Es ist so weit!
Sie kommen!
Der Schmerz, welcher mich durchfuhr, nahm mir die Fähigkeit, auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen. Kälte kroch in meine Glieder. Tiefes Brummen und Raunen hallte zu mir, doch ich konnte die Wörter nicht verstehen. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis die Stille zurückkehrte und mich zu sich zog.

… Die Zeit wirbelte um Fanny herum, ich spürte ihre unermessliche Traurigkeit. Ihre blaugrünen Augen sahen mich an. Zuerst erschrocken, ängstlich, doch dann erkannte sie mich. Der Wirbel legte sich und Fanny entfernte sich von mir. Ich sah aus großer Distanz wie sie aus ihrem Schlaf hochfuhr.
„Er lebt“, flüsterte sie und rannte los. Sie stand im nächsten Augenblick vor einer Tür. Wild hämmerte sie mit der Faust dagegen. „Hobbs, er lebt! Wir müssen zurück. Jetzt.“ Verzweifelt schloss sie ihre Augen.
Hobbs riss die Tür auf und stieß ein abgehetztes „Fanny, was ist los“ aus. Fragend sah er sie an, mit Verständnislosigkeit und Ungeduld in seinem Blick.
Hinter ihm tauchte Katharina auf. „Wer lebt?“, fragte sie verwirrt.
Fanny stockte in der Bewegung, ihre Wangen röteten sich vor Scham. Ich kannte diesen Ausdruck in ihrem wunderschönen Gesicht nur zu gut. Mit dem nächsten Wimpernschlag überwand sie die Emotion und konzentrierte sich. „Oskar – er lebt!“ …

Nun war ich es, der aus einem Traum abrupt gerissen wurde. Der Durst übermannte mich und meine Kehle schien lichterloh zu brennen. Nie war die Gier nach frischem Blut stärker. Erinnerungen an Fanny, an den Geschmack ihres Blutes fluteten mich.
Ich brauche sie.
Die Trümmer über mir schienen an Gewicht verloren zu haben und auch der Schmerz war erträglicher geworden. Vielleicht hatte ich mich auch nur an das Gefühl gewöhnt und der Schmerz war nun ein Teil von mir, wie die Narben auf Fannys Haut zu einem Teil von ihr geworden waren. Der Teil, welcher mir verdeutlichte, dass ich noch lebte. Ich begann meine Glieder zu strecken, zu meiner Überraschung gehorchten sie mir und ich spürte wie sich das Geröll ebenfalls bewegte.
Sie glaubt an mich.
Diese Erkenntnis gab mir Kraft und Hoffnung, dass wir vielleicht doch aus dieser Sache lebend rauskommen konnten.
Sie weiß, dass ich lebe.
Sie will zurück zu mir.
Ich muss zu ihr.
Diese Gedanken lösten mich aus der Lethargie, der Bereitschaft zu sterben, und ich begann mich aus meinem Gefängnis zu befreien.
Ich grub mich durch das Geröll, wankte gefährlich, als ich endlich auf meinen Beinen stand und fühlte mich, als befände ich mich auf einer Achterbahn bei voller Fahrt in einem dreifachen Looping. Die Umgebung roch nach Rauch und Tod. Die Arme gegen meine Beine stemmend und um eine tiefe, ruhige Atmung bemüht, versuchte ich gegen die aufsteigende Übelkeit anzukämpfen. Es dauerte.
Währenddessen versuchte ich blinzelnd etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Doch mehr als undeutliche Schemen bildeten sich nicht aus dem Schwarz heraus. Nur schwer konnte ich einschätzen, was von dem großen Raum noch übrig war. Erneut stürzten die Erinnerungen auf mich ein.

… Erebos sah mich mit vor Schmerz verzerrtem Blick flehend an. Ich nickte ihm zu, packte seinen malträtierten Körper und riss ihn aus der Verankerung der Fesseln und Schläuche. Er keuchte erleichtert auf. „Bitte, beende es, mein Sohn.“ …

Schweratmend starrte ich auf meine Hand und glaubte Erebos Herz darin zu fühlen. Es war nur eine Erinnerung und doch überfiel mich eine tiefe Traurigkeit. Es war über ein Jahrhundert mein Ziel, sein Leben zu beenden. Alles, was ich tat, war darauf ausgerichtet.
Warum fühle ich nun Trauer?
Er war mein Feind und hat mich ohne Gnade Dr. James und Bray ausgeliefert.
Erebos wollte, dass sie mich brechen.
Nur auf Initiative meines Vaters war es ihnen möglich mich zu zerstören und zu Brays Sklaven zu machen.
Wie auf Kommando wurde der Ruf des Alphas in meinem Kopf lauter und zwang mich auf die Knie. Trauer und Wut tobten in meinem bebenden Körper und ich brüllte ohrenbetäubend in die Dunkelheit.

Sobald sich meine Emotionen beruhigt und ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt hatte, zwang ich mich auf die Beine.
Ich muss hier raus!
Ich muss zurück zu Fanny!
Entschlossen tastete ich mich vorsichtig vorwärts. Nach einer Weile fand ich eine schmale Öffnung, welche früher mal eine Tür gewesen sein musste. Dahinter sollte das Treppenhaus liegen. Doch nun stand ich auf einem kleinen Absatz, es gab keine Treppe mehr, sondern nur noch Berge aus Stein und Geröll. Erneut begann sich die Dunkelheit um mich herum zu drehen.
Ich muss nach oben!
Es gab nur einen Weg, wenn ich dieses Grab hinter mir lassen wollte. Nach oben, durch das Geröll hindurch. Nach einigen tiefen Atemzügen begann ich, mich mit meinen bloßen Händen nach oben durchzugraben.

Wankend erreichte ich die Oberfläche. Stürmischer Wind peitschte mir den Regen ins Gesicht, so wie ich die letzten Trümmer zur Seite geschoben hatte. Dicke dunkelgraue Wolken hingen am Himmel und die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt. Dennoch blendete das schwindende Tageslicht meine Sicht. Es dauerte, bis sich meine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten. Der Anblick, der sich mir darbot, ließ mich stocken. Es fühlte sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Der Stützpunkt war völlig zerstört. Die Gebäude eingestürzt und die kläglichen Überreste türmten sich zu Bergen aus Geröll und Stein auf.
Das ist mein Werk.
Mein Virus, der die Explosion verursacht hat.
Hilflos betrachtete ich das Gelände und dessen Grenzen. Die Explosion hatte die gesamte Nachbarschaft betroffen. In der Ferne heulte eine Sirene.
Wo sind die Menschen, die hier lebten?
Torkelnd setzte ich mich in Bewegung, wanderte verloren über das Gelände. Drehte mich dabei mehrfach um die eigene Achse. Der Geruch von Fäulnis stieg mir in die Nase und das Brennen in meiner Kehle erinnerte mich, dass ich mich nähren musste. Meine Instinkte übernahmen und schnell hatte ich die Leichen unter den Trümmern am anderen Ende des Geländes gefunden. Mehrere Weiterentwickelte.
Schwer atmend betrachtete ich die Überreste. Die Leichen waren von Fäulnis bereits stark zerfressen. Dennoch überfiel mich die Gier und ich stürzte mich auf das verweste Fleisch und das gestockte Blut in den Adern. Der erste Bissen ließ mich würgen, doch gleichzeitig, legte sich das Brennen in meiner Kehle. Ich war ein Tier, ein Monster, welches sich nunmehr von Aas ernährte. Dieser Gedanke ließ mich schaudern.
Ein leises Surren über meinem Kopf ließ mich hinauf in den Himmel sehen. Ein seltsames Licht schwebte kurze Zeit über mir. Als es verschwand, kehrte langsam die Kraft, das Leben, in meinen Körper zurück.
Nun konnte ich mich auf den Weg machen, Fanny zu finden.