Die Kanzlei BlutErbe – Leseprobe

Prolog

An diesem Sonntagnachmittag strahlte die Maisonne vom wolkenlos blauen Himmel und lockte sämtliche Familien auf die Passauer Maidult. Lachend rannten die Kinder umher und ihre Eltern genossen die Auszeit vom stressigen Alltag. Keiner von ihnen nahm Notiz von Jürgen Raigen, der mit seiner kleinen Tochter im rosa Buggy und dem alten verschlissenen Rucksack auf seinen Schultern über die Kirmes lief. Die beiden verschwanden in dem Getümmel und niemand bemerkte die dunklen Ringe unter seinen grauen Augen oder die tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn.
Ich hoffe, du weißt was du da tust, hallten die Worte seiner Ehefrau in Jürgens Kopf nach. Sorgenvoll blickte er auf die kleine Fanny hinab, die zur Abwechslung brav in ihrem Buggy sitzen blieb und neugierig das lustige Treiben um sie herum beobachtete. Ja ich auch, dachte er. Maria Raigen war alles andere als begeistert von seinem Plan, doch was sollten sie sonst tun? In den letzten Monaten machte Fanny ihnen das Leben zur Hölle. Jeden Tag nahmen die Wutausbrüche des zweijährigen Mädchens zu und erst gestern wäre sie in einem Tobsuchtsanfall beinahe erstickt.
Daher konnte er gar nichts anderes tun, als diesem Harald Sommer zu vertrauen und sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Auf das irrationale Gefühl in ihm, das er ebenfalls hatte, als er Gabriella zum ersten Mal begegnet war. Genau dieses Gefühl sagte ihm nun, dass der Mann ihre einzige Chance war. Die einzige Chance auf ein normales Familienleben. Die einzige Chance für Fanny. Erneut sah er seine Tochter an, ihre Augen strahlten voller Freude, voller Leben. Sie hat Gabriellas Augen, dachte er traurig und seufzte. Er vermisste seine Geliebte, an jedem einzelnen Tag seines Lebens. Das kleine Mädchen vor ihm war alles, was ihm von ihr geblieben war und er behütete sie, wie einen Schatz. Egal was es kosten würde, er würde alles für das Glück dieses Kindes geben. Liebevoll und tief in Gedanken versunken strich er Fanny über den Kopf, die vergnügt gluckste.
»Jürgen«, ertönte es hinter ihm und gleichzeitig spürte er ein sanftes, aber bestimmtes Tippen auf seiner Schulter.
Er drehte sich um und atmete erleichtert aus. »Harald, schön Sie wieder zu sehen.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.
»Kommen Sie, gehen wir ein Stück«, forderte Harald ihn auf und während er sprach, betrachtete er die kleine Fanny voller Ehrfurcht und verneigte sich. »Kleine Prinzessin.« Sommers Art und Tonfall verursachten Jürgen unweigerlich eine Gänsehaut.

Sie gingen eine Weile über das Volksfest, bis sie etwas abseits des Geschehens, im Schatten eines der neuen, wilden Fahrgeschäfte stehen blieben. Harald sah sich wachsam um und erst als er sicher war, dass sie nicht beobachtet wurden, zog er einen braunen Umschlag aus seiner Jackentasche. »Das Mittel ist stark, sehr stark. Fanny wird die nächsten Tage sehr mitgenommen sein und viel schlafen. Aber das ist notwendig.« Jürgen schluckte schwer, als er das Kuvert mit zitternder Hand an sich nahm und schnell in dem Rucksack verschwinden ließ. Harald konnte deutlich Unsicherheit und Angst in den grauen Augen sehen. »Es ist zu Fannys Bestem, das wissen Sie.«
Erneut nickte der Vater und verzog seine Lippen zu einem schmalen Strich, als könnte er damit seine Ängste besiegen. »Ja«, krächzte er.
»Sie müssen ihr das Serum direkt in die Vene spritzen.«
»Ja alles klar. Das sagten Sie bereits am Telefon.«
Harald lächelte Jürgen aufmunternd an und klopfte ihm auf die Schulter. »Gut. Das kriegen Sie schon hin.« Erneut überflog er mit wachsamem Blick die Menge. Es wurde Zeit sich zu trennen. Er sah Jürgen eindringlich an. »Und Sie dürfen nicht vergessen, dass die Wirkung des Serums zeitlich begrenzt ist. Melden Sie sich umgehend bei mir, sobald sich Fannys Wutausbrüche wieder verstärken. Bis dahin, passen Sie gut auf die Prinzessin auf.«
Schweigend verließ Harald den Vater und das kleine Mädchen, dabei kämpfte er gegen den Drang an, sich noch einmal umzudrehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Liebe von Jürgen Raigen zu Fanny zu vertrauen. Darauf zu hoffen, dass diese Liebe den Vater das Richtige für seine Tochter tun ließ. Denn obwohl sich dieser nicht über die Tragweite ihres Schicksals bewusst war, es hing Fannys Leben davon ab.

Kapitel 1

New York City , 22. Mai

– Oskar –

Meine Schritte hallten vom Betonboden der erst kürzlich durch mich erworbenen Lagerhalle wider. Das abbruchreife Gebäude befand sich am Rand von New York und war perfekt als versteckter Stützpunkt für meine Armee. Es hatte mich eine Stange Geld gekostet, das Gebäude für meine Zwecke umzubauen und noch immer entsprach es nicht ganz meinen Vorstellungen.
Während des gesamten Weges ging ich in Gedanken Fannys Aussage durch. Ich glaube, es war Ihre Frau, echoten ihre Worte durch meinen Verstand. Was, wenn es stimmte? Was wenn Julitta tatsächlich mit Wolfram zusammenarbeitete? Allein die Möglichkeit dessen ließ meine Hände sich unwillkürlich zu Fäusten ballen und danach gieren, Schmerz und Tod zu verbreiten.
Knarrend öffnete sich die schwere Stahlschiebetür und Dan Franko kam geradewegs auf mich zu. »Herr«, grüßte er mich salutierend. »Bitte entschuldigen Sie den ungebührenden Empfang, jedoch hatte ich Sie nicht so früh zurückerwartet.«
Mit erhobener Hand brachte ich ihn zum Schweigen, mein oberster Kommandant brauchte sich dafür nicht zu entschuldigen. »Hat es bei der Überstellung Schwierigkeiten gegeben?«, schnitt ich weitere Worte seinerseits ab und wechselte zu wichtigeren Themen.
Überrascht sah Franko mich an und schüttelte den Kopf. »Nein, Herr. Natürlich nicht.«
»Dann hat Wolfram offenbar kein Interesse daran, Bern und die anderen Verräter zu befreien. Interessant«, stellte ich mehr für mich selbst fest.
»Sir?«, fragend sah Franko mich an.
Schnaubend rollte ich mit den Augen und brachte ihn auf den neuesten Stand. »Vor wenigen Stunden hat Wolfram mich direkt in der Niederlassung Berlin angegriffen.« Frankos Augen weiteten sich.
Im nächsten Augenblick vibrierte und klingelte mein Smartphone in der Hosentasche. Grollend zog ich es heraus. Einer der Soldaten schickte mir eine Videodatei mit dem Text: Ich habe ihn gefunden. Ich wusste, dass ich mich auf meine Soldaten verlassen konnte.
Grinsend spielte ich das kurze Video ab. Darauf war der Bereich um Brakovs Berliner Residenz herum zusehen. Zunächst war alles ruhig, doch plötzlich bewegte sich ein Schatten über das Grundstück. Der Schein der Straßenlaterne offenbarte sein Geheimnis. Der Schatten verwandelte sich in den verletzten Patrick Wolfram und der in das Innere der Villa verschwand.
Das Grinsen verging mir und brüllend stoppte ich das Video. Brakov versteckte dieses abartige Geschöpf der Wissenschaft. Ich wusste es. Umgehend rief ich den Soldaten zurück und wartete ungeduldig darauf, dass die Verbindung zustande kam.
»Herr«, kam es vom anderen Ende.
»Bleiben Sie auf ihrem Posten und halten Sie mich über jede noch so kleine Veränderung auf dem Laufenden«, befahl ich ihm kalt.
»Jawohl.«
Meine Hand zitterte, als ich das Mobiltelefon zurück in meine Tasche gleiten ließ. Alles führt zu Brakov. »Ich will umgehend mit Bern sprechen.«
Kommandant Franko räusperte sich. »Selbstverständlich, Herr.«

Kurze Zeit später stand ich Bern gegenüber. Seine körperliche Verfassung war gut, zu gut für meinen Geschmack. Noch immer hatte er diesen Hochmut und die Arroganz in seinem Blick. Ich freute mich darauf, ihm beides in den nächsten Stunden auszutreiben.
»Schickt dich Erebos, um mich freizulassen?«, fragte Bern höhnisch.
Dunkel lachte ich auf. »Oh ganz im Gegenteil. Mein Vater will, dass ich die Wahrheit aus Ihnen herausquetsche und Sie hinterher auf der Müllhalde entsorge«, log ich und grinste ihn an.
Für eine Millisekunde huschte Todesangst über sein Gesicht. »Ich habe nichts getan, was Erebos verärgern würde.«
»Sicher? Bern, glaubst Sie wirklich, dass diese Unschuldsbeteuerungen Ihnen noch irgendjemand abkauft?« Ich begann vor ihm auf und ab zu schreiten. »Computer sind etwas ganz besonderes, mit den richtigen Programmen unfehlbar, und vor allem kann man nichts verbergen.« Seine Augen wurden größer und jede Farbe wich aus seinem Gesicht. »Es war Ihr größter Fehler den Computer der Kanzlei zu benutzen. Ich schlage daher vor, dass wir das Spielchen abkürzen. Wo befinden sich die Leute, die von Ihnen bezahlt wurden, als wären sie Kanzleiangestellte? Und was hat Brakov damit zu tun? Sie wissen doch, dass Erebos nichts mehr hasst, als um einen Millionenbetrag beschissen und an seine Feinde verraten zu werden.«
Bern schluckte schwer. »Ich habe keine Ahnung, von was du da sprichst.«
»Danke. Ich habe gehofft, dass Sie das sagen.« Lachend marschierte ich auf den zimmerhohen Metallschrank in der Ecke zu und öffnete schwungvoll die Doppeltür. Dieser entblößte eine große Anzahl an den unterschiedlichsten Werkzeugen, die einem Handwerker bei seiner Arbeit helfen sollten. Doch sie eigneten sich auch für meine Zwecke, Bern die unerträglichsten Schmerzen zu bereiten. Ich hielt inne und betrachtete das hochglanzpolierte Metall.
Ohne Hektik musterte ich die Schraubenzieher, Hammer, Schraubzwingen, Bohrmaschinen, Seitenschneider und Bolzenschneider in den verschiedensten Ausführungen und Größen. Schließlich blieb mein Blick an dem alten Seitenschneider hängen, der als einziges Werkzeug bereits Rost ansetzte. Schwermütig nahm ich ihn in die Hand. Das alte Ding begleitete mich nun seit mehreren Jahrhunderten. Verdrängte Erinnerungen drohten sich in mein Bewusstsein zu kämpfen, doch schnell schüttelte ich diese ab. Ich griff mir noch einige Schraubenzieher und die Schraubzwingen, dann kehrte ich mit dem Sammelsurium zu Bern zurück.
Dieser erstarrte in Todesangst, als ich die Sachen vor ihm auf dem Tisch ausbreitete. Den Seitenschneider behielt ich jedoch in der Hand. »Dann lassen Sie uns spielen.« Ich umrundete den Tisch und blieb dicht bei ihm stehen. Strich mit dem Seitenschneider langsam über sein Ohr. Wie ein Feigling begann er zu zittern und seine Atmung beschleunigte sich. »Ich will Namen«, flüsterte ich in Berns Ohr. Als Antwort presste dieser nur fest seine Lippen zusammen. Er will es so. Mein Puls erhöhte sich, Vorfreude ergriff mich. Ich war in meinem Element, setzte das alte Werkzeug im oberen Bereich der Ohrmuschel an und schnitt hinein.

Einige Stunden später

Bern schrie gequält auf, als ich zwei Schraubenzieher tief durch seine ausgebreiteten Handflächen in die Tischplatte trieb. »Bern verraten Sie mir eines, weshalb der Widerstand? Sie hatten das uneingeschränkte Vertrauen meines Vaters. Nach dem Krieg hat er Sie sofort zum Verwalter des österreichischen Sektors ernannt und in all den Jahren hatte er Ihre Loyalität nie angezweifelt. Er hat Sie mit mehr Geld und Macht ausgestattet, als Sie es unter normalen Umständen hätten erreichen können. Sie hätten mehr Gründe als irgendein anderer an Erebos Seite zu stehen. Weshalb haben Sie all das aufs Spiel gesetzt?« Verständnislos starrte ich ihn an. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Augen waren glasig. Ich wusste, er würde der Folter nicht mehr allzulange standhalten können. »Kommen Sie, erleichtern Sie ihre verdammte Seele und beichten Sie ihre Sünden.«
Er stöhnte schmerzerfüllt und atmete schwer. »Weil Freiheit und Liebe wichtiger sind im Leben, als Macht und Geld«, presste er angestrengt mit heiserer Stimme hervor.
Das sind seine Gründe? »Freiheit und Liebe? Ernsthaft?« Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Ganz offensichtlich war er ein größerer Idiot, als ich dachte. »Es ist Ihnen also wichtiger, öffentlich ihre Frau betatschen zu können, als ein Land zu regieren. Klar das macht Sinn«, spottete ich weiter.
»Dass du das nicht verstehen kannst überrascht mich nicht, Oskar.«
Amüsiert setzte ich mich zu seiner linken auf den Rand der Tischplatte und legte die Hände in den Schoß. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich Sie in das Heilsanatorium meines Vaters bringen lasse, damit Sie von dieser Gefühlskrankheit geheilt werden. Zacharias Baylon hat in den letzten Monaten ein sehr wirksames Mittel entwickelt.«
Verächtlich schnaubend sah Bern mir ins Gesicht. »Das kann nur aus dem Mund eines Monrachs kommen. Etwas zu fühlen ist keine Krankheit und auch keine Schwäche. Genau das macht uns stark. Du erinnerst dich an unsere wahre Königin? An ihre Leidenschaft und Liebe für das Volk, mit der sie gegen dich und Erebos gekämpft hat? Königin Gabriella hat sich euch nicht gebeugt.«
»Ja und deshalb ist sie tot, so wie alle anderen, die sich gegen meinen Vater und mich auflehnten. Und Sie Bern, werden ihr bald folgen.«
»Ich sterbe lieber als weiter unter euch zu leben.«
Erneut musste ich auflachen. Dieser Widerstand seinerseits war einfach lächerlich. »Gilt das auch für Ihre Familie; Ihre Frau, Ihren Sohn und Ihre Töchter? Sind sie ebenfalls bereit für eine sinnlose, zum Scheitern verurteile Bewegung zu sterben?« Schnell wand er sich von mir ab, offensichtlich wollte Bern nicht, dass ich die Angst in seinen Augen sah. »Sag mir was ich wissen will und ich verschone ihr Leben. Ich sorge dafür, dass Ihre Kinder eine zweite Chance bekommen.«
»In dem Heilsanatorium, wo ihnen die Identität und Persönlichkeit geraubt wird?«
»Wo wir sie von der Krankheit heilen, die euch befallen hat und sie gesundet zurück in die Gesellschaft können.«
»Als was? Als eure Sklaven?«, fragte Bern verbittert.
Schweigend starrten wir uns einige Minuten an und seine Frage, der darin enthaltene Vorwurf, hing tonnenschwer über uns und drückte auf mich herab. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass das Heilsanatorium einen zerstören konnte. Doch Sklaven wurden nur die hoffnungslosen Fälle. Die, bei denen die Krankheit zu weit fortgeschritten und unheilbar war. »Rede«, forderte ich ihn erneut auf, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Erebos ist ein Mann, der von seinen Selbstzweifeln getrieben und von verletztem Stolz zerfressen ist. Der in seiner verschobenen Wahrnehmung der Realität glaubt, er hätte ein Recht über uns zu herrschen. Doch dieses göttliche Recht hatten nur die Rowans und alle Abkömmlinge ihrer Blutlinie, und selbst sie lagen falsch.«
Worauf will er hinaus? Während er sprach, driftete Berns Blick immer weiter in die Ferne ab. Zuerst dachte ich, dass sein Blutverlust zu groß war und ich es übertrieben hatte. Er durfte nicht sterben, bis ich die Antworten von ihm hatte.
»Weißt du Oskar, die ersten Vampire, die Vorväter der Rowans, legten fest, dass die Menschen lediglich Nutztiere seien, aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit. Sie begründeten dies auch damit, dass ihr Blut uns bis zu einem gewissen Maß die Unsterblichkeit gibt. Sie behaupteten, dies wäre der alleinige Zweck des Menschen, uns zu dienen und zu nähren. Sie erhoben sich über die Menschen und erklärten die Vampire zur Herrscherrasse.« An seinen klarer werdenden Augen sah ich, dass er wieder zurück ins Hier und Jetzt kam. Er sah mich eindringlich an. »Sie hatten Unrecht. Blut ist ein Geschenk des Menschen an uns, dass wir nicht würdigen. Und wir verachten diejenigen, die es tun. Wir jagen Sie und ihre Nachkommen, töten und versklaven sie. Das ist Unrecht, ein Irrtum, eine Falschannahme seit Anbeginn der Zeit. Königin Gabriella hatte dies erkannt.« Er lächelte traurig, als er ihren Namen aussprach. »Sie wollte eine bessere Welt erschaffen, eine gerechtere. Und das ist auch mein Antrieb und der des russischen Königs. Du fragst nach dem Warum. Wir alle wollen diese Welt verändern und sie für die, die nach uns kommen verbessern. Selbst du, Oskar. All deine Handlungen zielen darauf ab, diese Welt zu verändern – ungeachtet dessen wie krank deine Vorstellung dazu auch ist. Du kannst mich töten, doch mein Vermächtnis für die Welt bleibt.« Er machte eine Pause und hustete kräftig. »Das Geld, um das ich deinen Vater betrogen habe, war für die Gejagten, die Ausgestoßenen, die unserer Welt entfliehen mussten, um ein Leben in Freiheit führen zu können. Da du danach fragst, weiß ich, dass ich alles richtig gemacht habe und du nichts weiter dazu finden konntest, als dass ich euch das Geld gestohlen habe.« Leise lachte er auf. »Und du kannst dir die Mühe sparen, mehr aus mir heraus zu foltern. Ich habe dir gerade alles dazu gesagt, was ich weiß. Ich kenne keine Namen, keine Aufenthaltsorte. Die armen Seelen haben die Welt der Vampire, unsere Gesellschaft, verlassen und jenseits der Grenzen unserer Welt ein freies Leben begonnen.« Nun verließen Bern die Kräfte und er verlor das Bewusstsein.

– Fanny –

Mist, wo ist nur mein Handy und mein Reisepass? Ich durchwühlte gerade meine Reisetaschen, als mich ein eisiger Schauder erfasste und das absolute Böse durch mich hindurchzujagen schien. Atemlos stockte ich in der Bewegung. Meine Sicht verdunkelte sich und nahm einen roten Schimmer an. Urplötzlich überfiel mich eine unbändige Wut und ich hatte das Bedürfnis alles in Stücken zu reißen. Knurrend griff ich nach einem Stapel T-Shirts und warf sie in die Ecke. Schwer atmend starrte ich verwirrt und über mich selbst erschrocken auf das Chaos. Wo kommt nur diese Wut in mir so plötzlich her? Ich schloss die Augen und verlor mich im Gewirr meiner Gedanken.

… Eine Hand lag ausgestreckt auf der metallenen Tischplatte. Der Geruch von frischem Blut brannte in meiner Kehle und ich bekam Durst. Purer Hass wurde durch meine Venen gespült. Warum belog er mich? Was verheimlichte er? Ich wollte Antworten. Jetzt. Ich griff nach einem Schraubenzieher und rammte diesen durch die Hand. Der Schrei der folgte, hallte durch meinen Körper, raubte mir beinahe die Sinne und trieb mich voran in meinem blutigen Spiel. …

Schaudernd kam ich zurück ins Jetzt und gierte nach Blut, um das Brennen in meinem Hals zu löschen. Nicht real! »Es ist nicht real«, sagte ich laut vor mich hin, ließ das Chaos im Schlafzimmer liegen und ging in den Wohnbereich des Appartements. Die Sonne versteckte sich gerade hinter Schleierwolken. Ich ging auf die Fensterfront zu, die die gesamte Breite des Raumes ausnutzte. Der Blick auf New York City war der Wahnsinn. Das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Hände bebten unaufhörlich. Tief atmete ich durch und versuchte mich zu beruhigen. Daher konzentrierte ich mich auf die Skyline, den Blick auf die imposanten Wolkenkratzer geheftet, die gen Himmel ragten und scheinbar durch nichts zu zerstören waren.
Es war verrückt, ich wollte nicht nach New York und für Monrach arbeiten. Ich wollte zuhause sein. Dennoch, seitdem ich das Flugzeug verlassen hatte, freute ich mich auf die neue Herausforderung, die Kollegen, und darauf die Stadt kennen und lieben zu lernen. Gleichzeitig wollte ich in diesem Moment alles kurz und klein schlagen. Ich hatte in meinem Leben sehr viele Wutausbrüche, doch niemals zuvor fühlte ich mich innerlich so zerrissen.
Bevor ich weiter mein Gefühlschaos analysieren konnte, klopfte es an der Tür und in der nächsten Sekunde stand Dominik vor mir. »Lässt du deine Türen grundsätzlich offen? Fanny, nicht jeder in diesem Gebäude ist dir wohlgesonnen.«
»Dann hatte ich die letzten Stunden wohl Glück gehabt«, antwortete ich schulterzuckend und versuchte meine Stimme locker klingen zu lassen.
»Bist du bereit deine Kollegen kennenzulernen?«
»Kollegen? Gehen wir nicht zu ihm?«, fragte ich verwirrt.
Dominik hob die Augenbraue und sah mich streng an. »Du solltest nicht so viele Fragen stellen. Heute bist du im Schreibbüro tätig, da der Herr Termine hat, bei denen er deine Anwesenheit nicht benötigt.«
»Kommt das oft vor?«, die Frage platzte aus mir heraus.
»Du wirst rechtzeitig in Kenntnis gesetzt. Keine Sorge.«
Hastig nickte ich. »Und was ist meine Aufgabe im Schreibbüro?«
»Wie viele Fragen kommen noch? Habt ihr das noch nicht besprochen?«, schnauzte Dominik Augen rollend.
Ich schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht.«
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Als Assistentin des Herrn, bist du gleichzeitig die Abteilungsleiterin des Schreibbüros. Du bist verantwortlich dafür, dass alle Diktate des Tages getippt und vor Arbeitsschluss fertig gestellt werden. Bis spätestens 15:00 Uhr hole ich die Post ab. Einmal in der Woche wirst du dem Herrn einen Produktivitätsbericht über die Mitarbeiter vorlegen. Jeder der nicht 100 % produktiv ist und schlampig arbeitet, wird … ausgewechselt. Bei Monrach Inc. gibt es keinen Platz für Versager.« Bei den letzten Worten leuchtete es in Dominiks Augen gefährlich auf.
Ein dicker Kloß begann gegen meine Kehle zu drücken, ich schluckte schwer. »Okay.«
»Also, bist du nun bereit?«
»Ich habe wohl keine andere Wahl, oder?« Ich sah an mir herab und begutachtete die helle Jeans, die ich mit einer weißen Bluse kombiniert hatte. Ich wollte einen guten Eindruck machen. Dominik folgte meinem Blick.
»Nein, nicht wirklich. Für heute geht dein Outfit in Ordnung. Nun komm.«

Der Umgebungswechsel drängte den Sturm in mir zurück, die Wut flaute rasch ab und wich neugieriger Aufregung. Als die Tür des Aufzugs lautlos aufglitt, fiel mein Blick sofort auf die riesige Wanduhr gegenüber. Es war Punkt neun und Hektik dominierte die Arbeitsatmosphäre des Großraumbüros, welches sich über das gesamte Stockwerk erstreckte. Die Wände waren in hellen, warmen Creme- und Brauntönen gestrichen. Zwei unscheinbare Türen rechts neben dem Fahrstuhl deuteten die Toiletten an und ein Stück weiter hinten war ein separater Raum durch eine Glaswand abgetrennt.
»So, los gehts.« Dominik berührte mich im Rücken und schob mich aus dem Lift. »Alle mal herhören«, begann er sehr laut und mit strengem Ton in der Stimme.
Sofort wurde es still, bedrückend still, und alle Augen richteten sich auf uns. Ich spürte, dass meine Wangen heiß wurden und lächelte hilflos dagegen an. Doch mein Lächeln erstarb, als ich die feindseligen Blicke einiger Mitarbeiterinnen registrierte. Schlagartig wandelte sich meine Stimmung erneut und das Herz schien zeitgleich in meine Hose zu rutschen. Willkommen sein fühlte sich anders an. Ein ungutes Gefühl setzte sich in mir fest. Die Arbeit hier wird mit Sicherheit alles andere als leicht werden.
»Ich darf euch die neue Abteilungsleiterin vorstellen, Fanny Raigen.« Ein Raunen ging durch die Etage. »Sie ist eure Ansprechpartnerin wenn ihr Fragen zu den Fällen, den anstehenden Fristen habt, oder Dinge im Ablauf unklar sind. Ansonsten ist alles wie gehabt, Abgabetermin der Tagespost ist weiterhin fünfzehn Uhr. Wenn Ihr Fristsachen zu bearbeiten habt, meldet ihr euch am Tag des Fristablaufs um acht Uhr bei Fanny.«
»Hat die persönliche Assistentin des CEO nichts Besseres zu tun?«, unterbrach ihn eine junge Frau bissig.
Gelassen lächelte Dominik sie kalt an. »Gewiss Miss Greenman, jedoch gehört es auch zu Fannys Aufgaben, euch zur Seite zu stehen.«
Die Frau schnaubte und musterte mich verächtlich. »Ja genau«, zischte sie, drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück an ihren Arbeitsplatz.
»Ihr solltet nun alle wieder an die Arbeit gehen.« Nun sah Dominik mich wieder an und deutete auf die Glastür. »Das ist dein Büro, Fanny.« Er zog mich weiter und schloss die Glastür hinter uns. Abgeschottet und doch von jedem zu beobachten, fühlte ich mich wie auf dem Präsentierteller. »Der Herr hat dir die Diktate, die heute erledigt werden müssen, bereits per E-Mail geschickt. Dann lass ich dich hier mal ankommen und arbeiten. Falls du mich brauchst, meine Nummer ist auf der zweiten Kurzwahltaste eingespeichert. Bis später.« Er erwartete keine Antwort von mir und ging mit lockerem Hüftschwung in Richtung Aufzug davon.
Verloren ging ich um den Tisch herum und spürte die neugierigen Blicke meiner Kolleginnen im Rücken, die mich gerade musterten wie eine Laborratte und mit Sicherheit nur darauf warteten, dass ich einen Fehler machte. Zumindest das war wie zu Hause. Augenrollend setzte ich mich an den Computer und sah, dass Dominik recht hatte. Mehrere duzend Emails blinkten auf. Das verdrängte Echo der Wut wurde nun wieder lauter und drohte mich vollständig einzunehmen. Ich versuchte dieses Gefühl zu ignorieren und mich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Als ich gerade dabei war die erste E-Mail zu öffnen, betrat die Frau, welche Dominik so bissig unterbrochen hatte, mein Büro. Die dunklen Locken fielen ihr über die Schulter und ihr unfreundlicher Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich Ärger bekam. Freundlich lächeln, dachte ich. Es ist dein erster Tag. »Kann ich Ihnen helfen, Miss … ähm … Greenman richtig?«, fragte ich sie und unterdrückte das Bedürfnis ihr ins Gesicht zu schlagen.
»Mal sehen«, schnaubte sie. »Ich wollte Sie nur informieren, dass das DiktaProgramm auf einigen Arbeitsplätzen den Geist aufgegeben hat.«
»Oh. Haben sie schon mit dem zuständigen Serviceteam für das Programm gesprochen?« Ich versuchte gelassen und ruhig zu bleiben.
»Warum sollte ich, das ist doch jetzt ihr Job«, antwortete sie schnippisch und ging.
Ich japste wie ein Fisch nach Luft. Empört folgte ich ihr nach. Sie gesellte sich zu einer Gruppe von Frauen, die bei einer kleinen Kaffeetheke standen. Als sie sahen, dass ich auf sie zukam, warfen sie mir allesamt verachtende Blicke zu. Großartig, ich werde hier keine Woche überleben! Seufzend straffte ich die Schultern und ging auf die Frauen zu.
»Was ist«, fauchte Miss Greenman genervt.
»Miss Greenman, zeigen Sie mir bitte das Problem«, forderte ich Sie scharf auf. Zu scharf, wie aus den Reaktionen der Anderen abzulesen war. »Damit ich es an den Support weiter geben kann«, versuchte ich den Satz abzumildern. Ich blickte den Frauen nacheinander ins Gesicht und sah die herum liegenden Aktenstapel auf den Schreibtischen. Produktivitätsauswertung, schoss es mir durch den Kopf und dabei krampfte sich mein Magen zusammen. »Und die, bei denen das Programm funktioniert, sollten nun zurück an die Arbeit gehen. Schließlich gibt es heute noch einiges zu erledigen.«
Die Runde schnaubte, aber keine von Ihnen traute sich bei Miss Greenman stehen zu bleiben. Diese schoss mir gerade all ihre Verachtung mit eisigen Blicken entgegen. »Das interessiert mich nicht im Geringsten«, fauchte sie für alle deutlich hörbar und erneut brach Unruhe im Büro aus. Jeder sah von seinem Arbeitsplatz auf und alle Augen richteten sich auf mich. Süffisant grinsend wand Miss Greenman sich von mir ab und verließ uns. Hilfe suchend sah ich mich um, erntete jedoch nur weitere verachtende, empörte Blicke und verständnisloses Kopfschütteln der anderen Kolleginnen.
Stumm fluchend setzte ich mich an den Arbeitsplatz von Greenman und versuchte das Problem – sofern es eines gab – selbst herauszufinden. Zum Glück hatte diese vergessen, den Computer zu sperren, so war es mir möglich ohne Weiteres ihre Behauptung zu überprüfen. Jedoch auch nach zehn Minuten konnte ich noch immer keine Fehlfunktion feststellen. Was sollte das? Mein Blut begann vor Wut zu kochen.
Nach Miss Greenman ausschauhaltend stand ich unverrichteter Dinge wieder auf. In diesem Moment kam sie gerade aus dem Aufzug. Zielstrebig ging ich auf sie zu. »Miss Greenman, ich kann keine Probleme des DiktaProgramms an ihrem Arbeitsplatz feststellen. Sie können nun weiterarbeiten oder zeigen mir, was Sie meinten«, herrschte ich sie an.
Ihre Augen funkelten boshaft, als sie überheblich an mir vorbeistolzierte. Mit zusammengepressten Zähnen tippte sie widerwillig auf der Tastatur herum. »Offensichtlich geht es jetzt wieder«, zischte sie und würdigte mich keines Blickes mehr.
»Das freut mich zu hören. Sollten Sie nochmals Probleme haben, melden Sie sich bitte.« Auf den Weg zurück in meinen Glaskäfig hörte ich Getuschel hinter mir. Ich bin hier nicht willkommen. Was bin ich nur für eine Idiotin? Enttäuschung setzte sich in meinem Herzen fest. Die kennen mich nicht und lehnen mich von vornherein ab. Plötzlich blieb ich stehen und drehte mich zu den Leuten um. »Wenn ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte.« Erneut sahen mich alle an. »Ich weiß, dass die Situation merkwürdig ist. Für Sie aber auch für mich. Ich bin ein Eindringling in ihr bestehendes Umfeld, der Ihnen einfach vor die Nase gesetzt wurde. Doch bitte glauben Sie mir, dass ich mit Ihnen zusammenarbeiten möchte. Und ich weiß, dass unsere Abteilung nur zufriedenstellend arbeiten kann, wenn wir ein Team werden und uns gegenseitig unterstützen.«
»Das sagt genau die Richtige«, begann Miss Greenman feindselig. »Sie sind nur dazu da, um uns zu beurteilen, und das nennen Sie dann Teamarbeit. In Wahrheit interessiert es Sie doch einen Scheiß, ob wir unsere Jobs behalten. Am besten Sie lassen uns einfach in Ruhe.« Auf ihrem Gesicht konnte ich Verbitterung und Verzweiflung lesen. Wusste oder ahnte sie etwas darüber, was hier tatsächlich ablief?
Wie auch immer, ihre Worte trafen mich hart und rissen, all die Vorfreude, die guten Hoffnungen, die ich seit heute Morgen hatte, aus mir heraus. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, wie ich mich ihnen beweisen konnte. In meinen Ohren begann es schrill zu pfeifen. »Wenn Sie das so sehen, dann lasse ich Sie nun weiterarbeiten«, presste ich hervor und verzog mich in mein Büro.
Ich ließ die Tür hinter mir zufallen und plötzlich hörte ich gequälte Schreie. Laut und deutlich, fast so, als wäre ihr Ursprung direkt neben mir. Hilflos drehte ich mich um die eigene Achse und drückte die Hände auf meine Ohren. Für die Kollegen vor der Tür musste ich wie eine Verrückte gewirkt haben. Es dauerte, doch schließlich verstummten die Schreie.
Wankend setzte ich mich an den Schreibtisch. Ich sah zur Uhr, es war bereits halb elf. Das Debakel hatte mich eineinhalb Stunden gekostet. Eineinhalb Stunden für nichts. Ich musste endlich mit meiner Arbeit beginnen, doch es fiel mir sehr schwer mich darauf zu konzentrieren.

… Stöhnend saß Dr. Bern an dem metallernen Tisch, durch beide Hände waren Schraubenzieher getrieben worden. Ich sah in sein blutüberströmtes Gesicht. Er wollte mir noch immer nicht die Wahrheit sagen. …

Erneut riss es mich jäh ins Jetzt zurück und meine Hände bebten, Schweiß stand mir auf der Stirn. Jetzt verliere ich endgültig den Verstand.

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